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Der Erhalt Indigener Sprachen
Die Herausforderungen einer samischen Biologielehrerin

Biologiebuch in der Sprache Nord-Sámi
Reihe „Skuvlla biologiija“. Anne Olli ist zwar froh, dass es dieses Biologiebuch in der Sprache Nord-Sámi gibt, aber es ist stark veraltet. Schleimpilze sind keine Pilze, Algen sind keine Pflanzen, Archaeen fehlen noch ... | © Anne Olli

Anne Olli ist Biologielehrerin in Sápmi. Sie versucht, Nord‑Sámi als Indigene Sprache am Leben zu erhalten – allen Widrigkeiten zum Trotz. Warum, das erklärt sie im folgenden Beitrag.

Von Anne Olli

Versuchen Sie sich Folgendes vorzustellen: Sie sind ein 13‑jähriger Jugendlicher aus Inari und leben auf dem finnischen Gebiet von Sápmi, der Heimat der Samen. Es ist der dritte Schultag auf der weiterführenden Schule und Sie sind gespannt auf die erste Biologiestunde. Zu Beginn der Stunde werden die Biologiebücher ausgegeben, die auf Finnisch sind. Sie blättern das Buch durch, runzeln die Stirn. Was sind das für seltsame Arten? Und warum ist der Tourismus das Erste, was im letzten Kapitel des Buches erwähnt wird: „Lappland ist ein karger Lebensraum“? Sie seufzen tief und heben Ihre Hand. „Ja?“, sagt die Lehrerin. „Gibt es auch Biologiebücher auf Nord‑Sámi?“ „Hmm, ja“, antwortet die Lehrerin, „aber sie sind von 1997. Der finnische Rahmenlehrplan für die Grundlagen der Bildung wurde danach zweimal aktualisiert, sodass die Biologiebücher der Sámi leider stark veraltet sind. Diese alten Bücher können nicht viel über Klimawandel, Recycling und viele andere wichtige Dinge vermitteln. Deshalb müssen wir die finnischen Bücher verwenden. Aber ich versuche, soviel Material wie möglich für euch zu übersetzen und es gibt auch einige Materialien online.“

All dies ist keine Fiktion – es sind meine Erfahrungen als Lehrerin mit der Situation des samischen Biologieunterrichts.

Ich wurde 1993 in Ivalo, Finnland, geboren und war so privilegiert, in einem Zuhause aufzuwachsen, das zweisprachig war. Mit meiner Mutter habe ich immer Nord‑Sámi gesprochen, mit meinem Vater Finnisch. Ich hatte auch das Privileg, in eine Nord‑Sámi‑Kindertagesstätte gehen zu dürfen und danach in eine Grundschule mit einer samischsprechenden Klasse. Ich hatte die meisten meiner Fächer auf Samisch, aber für einige Themen musste ich auch in die finnische Klasse. Als ich dann aber auf die weiterführende Schule kam, gab es nur noch das Fach „Samisch“ in der samischen Sprache. Alles andere lief auf Finnisch mit Lehrer*innen, die kein Sámi sprachen, sowie mit Lernmaterialien aus Südfinnland, die Menschen gemacht hatten, die null Kenntnisse über uns Sámi hatten.

Ich habe mich schon immer für die Natur um mich herum interessiert und deshalb stand für mich bereits in der Oberstufe fest, dass ich Biologie an der Universität studieren wollte. Damals wusste ich aber noch nicht, dass ich mich jemals für das Unterrichten interessieren würde. Aber mit der Zeit habe ich herausgefunden, dass ich das ziemlich gut kann, und ich habe gemerkt, dass es tatsächlich einen Bedarf an samischen Biologie- und Geografielehrer*innen gibt – wie an fast allen Lehrkräften, die Samisch sprechen können.

Sápmi wird oft vergessen oder exotisch dargestellt

Entsprechend dem finnischen Gesetz zu den Grundlagen der Bildung Paragraf 10 sollen „Schüler, die in den Gebieten der Sámi zu Hause sind und die samische Sprache beherrschen, in erster Linie auf Sámi unterrichtet werden.“

Aber weil es an Lehrer*innen mangelt, die Samisch sprechen, werden viele Fächer von finnischen Lehrer*innen oder von unqualifizierten samischsprachigen Lehrer*innen unterrichtet. Ich werde 2022 meinen Abschluss machen und in meiner Abschlussarbeit die Erfahrungen und Meinungen der samischen Jugendlichen zum Biologieunterricht in der Schule untersuchen.

Warum ist meine Abschlussarbeit wichtig? Wenn wir an die Schulfächer denken, spielt die Biologie eine Schlüsselrolle bei der Beschreibung der Umwelt, in der wir leben. Sie sollte wichtiges Wissen und Vokabular über unsere Umgebung vermitteln. Die Umwelt in Sápmi ist permanent bedroht: von Bergbau, Windkraft, Waldwirtschaft, Klimawandel, um nur einige zu nennen. Da die Biologie wichtiges Wissen über die Natur, ihre Beziehungen und Phänomene bietet, hilft sie auch zu verstehen, warum diese Dinge eine solche Bedrohung für unser Land darstellen und wie wir es schützen können. In den finnischen Lernmaterialien, die nicht nur für Finn*innen, sondern auch für samische Kinder und Jugendliche gedacht sind, wird Sápmi jedoch oft vergessen oder stark exotisch dargestellt. Ich finde es wichtig, zu hören, was samische Jugendliche denken, weil sie es sind, die die Lernmaterialien nutzen und wahrscheinlich wertvolle Meinungen dazu haben, wie wir den Biologieunterricht im Gebiet von Sápmi verbessern können.

Nach dem finnischen Gesetz zu den Grundlagen der Bildung soll die Bildung der samischen Kinder ihr Hineinwachsen in ihre Sprache, Kultur und Gemeinschaft unterstützen. Aber wie kann dieses Ziel jemals erreicht werden, wenn die Lernmaterialien nichts oder nicht genug über die samische Kultur und Sápmi zu bieten haben? Für samische Kinder ist es wirklich wichtig, dass sie „sich selbst” in den Lernmaterialien sehen, ansonsten könnten ihre Identität und Kultur geschwächt werden.

Veraltetes Lernmaterial erschwert hochqualifizierten Unterricht

Der Herbst 2021 hat mich auf viele neue Gedanken über das Unterrichten gebracht. Ich wurde nicht nur Lehrerin für die Grund- und Mittelstufe, sondern ich habe auch angefangen, Biologie auf Nord‑Sámi zu unterrichten. Zu Beginn des Schuljahres holte ich die benötigten Biologiebücher auf Nord‑Sámi ab, blätterte sie durch und wollte am liebsten losheulen. Sie waren zwischen 1997 und 2000 erschienen. Die beste Lösung war also, die finnischen Biologiebücher zu verwenden und trotzdem zu versuchen, so viel wie möglich auf Samisch zu unterrichten. Die finnischen Lehrbücher sind vor allem praktisch: Sie enthalten viele gute Übungen, die Sprache ist leicht zu lesen, und was wirklich wichtig ist, sie sind auf dem neuesten Stand. Mit anderen Worten: Sie machen das Unterrichten ziemlich einfach – jedenfalls außerhalb des Sámi‑Gebietes. Es war ein riesiger Lernprozess für mich selbst, als ich feststellte, wie arm mein Vokabular an samischen Biologiebegriffen war, während ich das Lernmaterial für unseren Gebrauch anpasste. Ich verlange zum Beispiel von meinen Schüler*innen nicht, dass sie Fischarten lernen, die es in Sápmi nicht gibt, während ich den Seesaibling in die Liste der Arten aufgenommen habe, die sie lernen müssen. Ich versuche mein Bestes, um einen interessanten und hochqualifizierten Unterricht zu vermitteln, auch wenn es in der jetzigen Situation viel Zeit erfordert und anstrengend ist. Ich kenne nur drei oder vier qualifizierte samischsprechende Biologielehrer*innen und Lehramtskandidat*innen in Finnland, mich eingeschlossen. Laut dem Korpela‑Bericht für das finnische Bildungs- und Kulturministerium von 2020 über die samischen Lernmaterialien haben viele samische Lehrer*innen ihre Besorgnis über die stark veralteten samischen Biologiematerialien geäußert. Das verzögert sowohl das Unterrichten als auch das Lernen, weil so viele Dinge im Internet kontrolliert werden müssen.

In jüngster Zeit habe ich von einer Reihe von Biologie‑Lehrbüchern aus samischer Sicht geträumt. Ich träume von Lernmaterialien, in denen Naturwissenschaft und traditionelles samisches Wissen Hand in Hand gehen. Ich träume von Lernmaterialien, in denen samische Jugendliche sich selbst und ihre Umgebung sehen können. Ich träume von Lernmaterialien, die in einfacher und verständlicher Sprache geschrieben sind. Ich träume von Lernmaterialien, die alle Schüler*innen ermutigen, Biologie zu lernen. Vielleicht ist dann eines Tages, wenn eine samische Biologielehrerin ihre Lehrbücher abholt, nicht Verzweiflung das erste Gefühl, das sie empfindet.

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