Nasrin Siege
Papa kommt nach

Von Nasrin Siege


Das ist Simin. Simin sitzt auf einem Bett. Sie hat einen grünen Schlafanzug an. So einen mit Karos. Simin ist etwas dünn und sie hat schwarze Haare. Sie kringeln sich überall auf ihrem Kopf und sind deshalb Locken.

Simins Füße stecken in dicken bunten Ringelstreifen. Simin zählt die bunten Streifen. Sie kann ja schon lange zählen und die Namen für die Farben kennt sie noch viel länger in Arabisch und in Deutsch.

Die Ringelstreifen sind blau und rot und grün und weiß. Ein Strumpf hat neun Ringelstreifen und ein Strumpf hat acht Ringelstreifen. Simin zählt noch einmal. Nein, sie hat sich nicht verzählt. Beim linken Strumpf fehlt ein blauer Streifen.

Simin ist hier mit Mama bei Oma. Noch nicht so lange. Seit gestern eigentlich. Oma hat ihr die dicken Wollstrümpfe gegeben. Das war, als sie angekommen sind.

Papa ist noch nicht angekommen.

Simin runzelt die Stirn. Papa ist da geblieben.

Die Autorin Nasrin Siege © Foto: Ludwig Siege © Goethe-Institut Nasrin Siege Foto: Ludwig Siege © Goethe-Institut
Simin drückt Lara an sich. Ein Glück, dass Lara mitgekommen ist. Aber sie ist ja auch so klein. So klein, dass sie in Simins Rucksack passt. Simin streicht Laras gelbe Haare glatt. Lara mag das. Sie schaut Simin mit ihrem einen Auge an. Lara weiß, dass Papa nicht angekommen ist.

Mamas und Tante Esraas Stimmen kommen aus dem Wohnzimmer. Simins Herz fängt vor Freude an zu hüpfen. Simin springt aus dem Bett und rennt ins Wohnzimmer. Sie schaut zu Mama und Tante Esraa. Tante Esraa sitzt im Computer.

„Du musst doch nicht weinen“, hört sie Mama sagen.

„Ich weine nur, weil ich“, sagt die Tante, „weil ich froh bin, dass du und Simin in Deutschland seid.“ „Und ich bin froh, dass du in Schweden bist.“

„Da ist ja Simin!“ Tante Esraa winkt. „Und du hast ja Lara dabei!“

Simin winkt zurück. Lara auch.

Simin wackelt mit dem Fuß vor dem Bildschirm.

„Die sind schön. Wo hast du diese schönen Socken her?“

Auf der Straße gibt es einen lauten Knall. Simin und Lara verstecken sich schnell.

Mama schaut unter das Bett.

„Du brauchst keine Angst haben. Das war von einem Auspuff.“

Mama hält ihr die Hand hin.

Simin schüttelt den Kopf.
„Komm ruhig raus.“

Simin schüttelt den Kopf.

Mama seufzt und geht zurück zu Tante Esraa.

„Die schönen bunten Socken hat meine Mutter für Simin gestrickt.“ Mama redet weiter mit Tante Esraa.

Sie sind auch warm, will Simin ihr zurufen. Aber die Worte wollen nicht raus, weil sie irgendwo in ihr bleiben.

„Warm müssen sie sein“, Tante Esraa hat Simins Worte, die nicht herausgekommen sind, gehört.„Jetzt, wo bald Winter ist.“

Simin ist wütend auf die Worte. Weil sie immer irgendwo stecken bleiben. Weil sie nicht rauskommen. Weil sie doch Tante Esraa alles erzählen will!

„In Deutschland seid ihr sicher“, sagt Tante Esraa.

Vorsichtig krabbelt Simin aus ihrem Versteck und legt sich wieder mit Lara ins Bett.

Aus der Küche kommt ein so guter Geruch. Aus der Küche kommen Klapper-Geräusche. Und Wasser-Geräusche. Aus der Küche kommen Oma-Geräusche. Und dabei ist gar nicht Weihnachten. Da war Simin schon einmal bei Oma-Frankfurt. Das ist aber schon lange her und Simin war noch kleiner als jetzt. Mama war auch da und auch Papa.

Mama steht in der Tür. Draußen scheint die Sonne. Mama geht zum Fenster. Ritsch machen die Gardinen und die Sonne fällt auf Simins bunte Bettdecke. Ein dicker Sonnenstrahl kitzelt ihre Augen. Aber nur ein bisschen.

Mama setzt sich zu Simin. Sie streicht ihr die wilden Locken aus dem Gesicht. Simin kuschelt sich an Mama.

„Nach dem Frühstück gehen wir ein wenig spazieren.“

Simin nickt.

Aus der Küche kommt eine süße Frühstückswolke. Zusammen mit dem Lied, das Oma singt. Simin und Mama lachen. Oma hat eine schöne Stimme. Früher war sie eine Opernsängerin. Aber das ist schon lange her. So lange wie alles. Simin nimmt Lara in den Arm und schaut zum Fenster.

„Na komm schon“, Mamas Stimme sagt dann auch noch Wasser und Badewanne.

Oma trillert wie ein Vogel.

Simin und Lara stehen auf.

An Simins Füßen leuchten die dicken bunten Ringelsocken.

Alle sagen, dass Simin Oma ähnlich sieht. Dabei ist Oma doch alt und Simin noch ein Kind. Und Omas Locken sind so weiß wie Wolken. Oder auch wie die von Frau Holle. Oma kann auch so schön singen. Simin schüttelt den Kopf. So wie Oma kann sie nicht singen.

Oma breitet die Arme aus. „Da bist du ja, mein Kleines. Komm, setz dich an den Tisch!“ Oma rückt den Stuhl zurecht. „Hast du gut geschlafen?“ Simin nickt.

Simin setzt sich mit Lara an den Tisch. Mama setzt sich auch an den Tisch. Mama schenkt sich selbst eine Tasse Kaffee ein. Oma gießt Kakao in die Bärentasse. Simin mag die Tasse. Sie hat einen dicken Bauch, auf dem fünf kleine Bären im Gras spielen. Sie sind bestimmt Geschwister. Simin stellt sich vor, wie sie mit den Bärchen spielt. Simin lacht.

„Was möchtest du essen?“ Oma zeigt auf den Küchentisch.

Simin spielt nicht mehr mit den Bären.

„Cornflakes?“

Simin schüttelt den Kopf.

„Vielleicht ein Brot mit Butter und Marmelade?“

Simin schaut zu Mama.

Illustration Nasrin Siege Lydia Salzer © Goethe-Institut


„Simin braucht morgens immer etwas Zeit“, erklärt Mama.

Oma nickt und setzt sich zu ihnen an den Tisch. Oma isst Brot mit Marmelade und trinkt Kaffee mit ein wenig Milch dazu. Mama trinkt Kaffee schwarz. Simin trinkt Kakao aus der Bärentasse.

„Sag doch was!“ Oma schaut Simin an.

Simins Becher fällt um. Die Bären schwimmen im Kakao auf dem Tisch. Lara fällt auf den Boden. Simin läuft zu Mama.

„Ist schon gut.“ Mama nimmt Simin in die Arme. „Nicht so schlimm!“

Oma wischt mit einem Lappen den braunen See vom Tisch weg.

„Siehst du?“, strahlt Oma. „Alles wieder gut!“

Oma will mit Simin zum Arzt gehen.

„Sie hat schon genug Stress gehabt“, sagt Mama. „Sie braucht noch etwas Zeit.“

„Aber warte nicht zu lange!“ Oma spricht streng.

„Ich gehe jetzt mit Simin spazieren“, sagt Mama. „Und auf unserem Weg besuchen wir Philipp.

„Gute Idee“, Oma ist einverstanden. „Ich singe dann etwas für mich.“

Simin freut sich auf Philipp. Weil sie ihn kennt und weil er Papas Freund ist.

Draußen ist es kalt. Die Sonne berührt Simins Gesicht. Simin friert nur an den Händen.

„Du brauchst Handschuhe,“ sagt Mama.

Im Park sind nur ein paar Leute und ein paar Hunde. Die Bäume haben keine Blätter mehr.
Ihre Zweige sind wie Arme, will Simin Mama sagen. Aber die Worte bleiben wieder stecken. Irgendwo drinnen in Simin.
Mama schaut sie an. „Willst du mir etwas sagen?“

Simin nickt.

Das Flugzeug ist plötzlich da. Zwischen den Wolken kommt es herausgeschossen. Es hat einen langen weißen Schwanz. Simin läuft weg. Ganz schnell. Simin versteckt sich. Das Gebüsch ist kratzig.

„Du brauchst keine Angst haben.“ Mama hockt vor dem Gebüsch. „Hier ist kein Krieg.“

Früher hat Simin ganz viel mit den anderen Kindern auf der Straße gespielt. Doch dann kamen die Flugzeuge und Simin und die Kinder haben nicht mehr so oft auf der Straße gespielt.

Aber wenn sie auf der Straße gespielt haben und ein Flugzeug gekommen ist, sind Simin und die anderen Kinder weggelaufen. Dann haben sie sich versteckt und wussten nicht wo. Die Flugzeuge haben Explosionen auf die Straßen und Häuser abgeworfen. Dann hat es geknallt und die Straßen und Häuser sind kaputt gegangen. Alle haben geschrien. Simin hat geschrien. Manche Leute sind danach nicht aufgestanden.

Einmal, da war Simin mit Mama auf der Straße. Mama wollte zu Papa ins Krankenhaus, wo er arbeitet. Zum Glück waren keine Flugzeuge am Himmel. Auf dem Weg hat Simin Lara gefunden. Da hieß Lara noch nicht Lara. Da hieß sie Puppe. Puppe lag unter einem kaputten Fenster von einem Haus. Nur ihr rechtes Auge fehlte. Simin hat das Auge gesucht. Aber sie hat es nicht wieder gefunden. Das heile Auge von Puppe hat etwas traurig geguckt. Es ist übrigens braun.

Simin hat Puppe mit zu Papa genommen. Papa ist Arzt und arbeitet im Krankenhaus. Simin hat ihm Lara gezeigt. Da hieß Puppe nämlich schon Lara, weil Simin ihr den Namen Lara gegeben hat. Papa hat Laras Auge, das nicht da war, untersucht. „Da kann man nichts machen“, Papa hat den Kopf geschüttelt.

„Macht nichts“, hat Simin gesagt. „Ich mag sie auch mit nur einem Auge.“

Papa hat gelächelt. Simin erinnert sich an Papas Lächeln.

„Es wird Zeit, dass du mit Simin nach Hause fliegst,“ hat Papa gesagt.

„Ich will nicht ohne dich nach Deutschland!“, hat Mama gesagt.

„Versteh mich doch, Lisa! Ich werde hier noch gebraucht!“ Papa hat Mama in die Arme genommen. „Und wir versuchen zu skypen, ja?“

„Skypen?“ Mama hat so komisch geguckt wie Simin das nicht mag. „Träumst du? Das funktioniert doch kaum noch!“

„Manchmal klappt es noch“, und jetzt hat Papa so geguckt wie Simin das nicht mag. „Und ich komme nach“, hat Papa versprochen.

Mama, Simin und Lara sind mit dem Bus gefahren. Simin hat aus dem Fenster geguckt. So lange bis Papa nicht mehr zu sehen war.

„Warum bleibt Papa hier?“

„Weil er Arzt ist und helfen will“, hat Mama gesagt.

„Er kommt nach“, hat Simin Mama gesagt.

„Stimmt …“

„Wann kommt er nach?“

„Bald …“

Im Bus waren viele Frauen und Kinder. Der Bus ist lange gefahren. Simin hat fast die ganze Zeit geschlafen. Als der Bus gehalten hat, ist Simin aufgewacht. Sie sind alle ausgestiegen und sie haben etwas zu trinken und zu essen bekommen. Simin und Mama mussten in einen anderen Bus umsteigen. Der ist wieder ganz lange gefahren und der hat ein paar Mal gehalten, bis er am Flugplatz angehalten hat. Simin und Mama und Lara sind zu Oma-Frankfurt geflogen. Simin nennt sie so, weil sie in Frankfurt wohnt. Papas Mama wohnt in Damaskus, und deshalb nennt Simin sie Oma-Damaskus.

Simin mag Philipp. Papa und Philipp haben in Frankfurt studiert. Seitdem sind sie Freunde. Das ist schon viele Jahre her. Da war Simin noch nicht geboren. Erst mussten Papa und Mama sich in der Universität kennenlernen.

Philipp kniet vor Simin. Er hat lustige blaue Augen und er hat einen kurzen blonden Zopf. Philipp lächelt. „Wie heißt denn deine Puppe?“, fragt Philipp. Simin öffnet den Mund, bewegt die Zunge, die Lippen. Sie strengt sich so doll an, bis ihr die Tränen kommen. Philipp schaut jetzt ernst zu Mama, die auf einem Stuhl sitzt. Er steht langsam auf und setzt sich auf den Stuhl am Tisch.

„Im Bus aus Aleppo hat sie noch gesprochen“, Mama guckt wieder so komisch wie Simin das nicht mag. „Ich weiß nicht genau, wann sie aufgehört hat zu sprechen.“

Simin läuft zu Mama und legt den Arm um sie.

„Warum ist Rami in Aleppo geblieben?“

„Weil er Arzt ist“, sagt Mama.

„Typisch Rami“, hört Simin Philipp sagen. „Aber ich kann ihn gut verstehen.“

Philipp und Mama unterhalten sich noch eine Weile und Simin hört genau zu. Da sind Worte, die Simin nicht kennt. Da sind Worte, die Simin vorher schon gehört hat. Deutscher Pass, den Papa nicht hat, weil er Syrer ist, und den Mama und Simin haben.

„Melde dich, wenn ihr Hilfe braucht.“ Philipp schaut ernst.

„Mach ich“, sagt Mama.

„Gib Simin noch etwas Zeit. Sie hat einiges erlebt und braucht jetzt Ruhe.“

„Ich weiß“, Mama holt tief Luft. „Und sie vermisst Rami.“

„Ich bin vor allem zu dir gekommen wegen meiner Mutter.“ Mama steht auf. Sie nimmt Simins Hand und lacht leise. „Sie hat gemeint, dass ich mit Simin zum Arzt gehen sollte.“

Philipp steht jetzt auch auf. Er umarmt Mama. Dann kniet er sich wieder vor Simin.
„Hier bist du sicher“, sagt er. „Und alles wird gut. Du wirst es sehen.“

„Papa … kommt nach … hat er gesagt“, Simin lauscht ihren Worten hinterher. Sie sind von ganz alleine gekommen. So frei wie die Sonnenstrahlen am Morgen und wie das Rascheln der Blätter im Park. Ganz leise. Aber sie sind da.

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