September 2021
Barbara Yelin und Thomas von Steinaecker: Der Sommer ihres Lebens

Bucheinband: The Summer of Her Life
© SelfMadeHero

Wenn du Dotter of Her Father’s Eyes verschlungen hast, dann empfehlen wir die Graphic Novel Der Sommer ihres Lebens von Barbara Yelin und Thomas von Steinaecker.

Eine der ersten Graphic Novels, die ich gelesen habe, war Mary Talbots schöne memoirenhafte Biographie, Dotter of Her Father’s Eye, illustriert von Bryan Talbot (der – so sagen Leute, die solche Sachen wissen – ein ziemlich hohes Tier in der Welt der Comics ist). Die Geschichte verwebt Mary Talbots Erwachsenwerden und ihr Verhältnis zu ihrem Vater – einem angesehen Joyce-Wissenschaftler mit aufbrausendem Temperament – mit der Geschichte von Lucia Joyce (der Tochter des modernistischen Autors). Es ist ein hervorragendes Buch, durchdrungen von Traurigkeit und Hoffnung. Mary Talbots Blick für Details und Bryan Talbots treffend durchdringender Einsatz der Farben hat ihnen den Costa-Preis in der Sparte Biographie eingebracht als das Buch erschienen ist – ein äußerst seltener Fall, da Comics kaum bei solch renommierten Literaturpreisen bedacht werden.

Es ist schwierig zu erklären, warum genau Der Sommer ihres Lebens von der Künstlerin Barbara Yelin und dem Schriftsteller Thomas von Steinaecker mich an Dotter of Her Father’s Eyes erinnert: Es ist Fiktion, nicht Biographie, und stellt weder turbulente Vater-Tochter-Beziehungen noch Parallelen zwischen unterschiedlichen Leben dar. Allerdings ist die Stimmung des Buches dieselbe: Traurigkeit gepaart mit Hoffnung, die nie zu Nostalgie oder Selbstmitleid wird.

Gerda Wendt wohnt im Senior*innenheim und denkt an ihr Leben zurück. Ihre Überlegungen und Erinnerungen werden durch ihre Faszination für die Physik (die früher auch ihr Wissenschaftsschwerpunkt war) gefiltert. Zahlen und Sterne, denkt Gerda, seien die einzigen Dinge, die immer da seien, auch wenn man gerade nicht hingucke.

Die Übergänge zwischen den Erinnerungen und dem Heute sind elegant gelöst: In einem besonders geschickten Beispiel rennt die junge Gerda einen gemütlichen Flur entlang, der allmählich zum Gang im Senior*innenheim wird – wo die alte Frau Wendt eine Krankenpflegerin trifft. Yelin und Steinaecker nutzen die Möglichkeiten aus, die entstehen, wenn man Text und Bild kombiniert, und unterstreichen dabei die Unordentlichkeit von Chronologie und Gedächtnis. Das passt zu Gerdas Gedanken zur Physik und der Möglichkeit alternativer Realitäten – ohne aber gezwungen oder übermäßig theoretisch zu wirken.

Wie in Dotter of Her Father’s Eyes ist der Einsatz von Farbe im Buch – in dem verschiedene Blau- und Gelbtöne besonders präsent sind – sehr eindrucksvoll und unterschiedliche Stimmungen und Zeiten werden dadurch hervorgerufen. Das Buch besteht aus relativ kurzen Kapiteln (4 bis 6 Seiten); die verschiedenen dunkelblauen Tuscheschraffuren auf den Seiten zwischen den Kapiteln regen die Leserin an, langsamer zu lesen und erinnern dabei an das immer wieder auftauchende Bild des Sternenhimmels.

Die Geschichten, die uns umgeben – ob in Büchern, Filmen oder Netflix-Serien – interessieren sich oftmals nur für die Jugend und werden dabei Menschen wie Gerda Wendt nicht gerecht. Der Sommer ihres Lebens hilft dabei, diese Ungleichheit zu beseitigen – und erinnert uns daran, niemals den Reichtum oder die Emotionen des Seelenlebens eines Menschen zu unterschätzen.
 

Über die Autorin

Annie Rutherford ist eine hoffnungslose Leseratte, kann sich nie auf nur eine Sache festlegen und bewegt sich am Liebsten irgendwo zwischen Genie und Wahnsinn. Sie ist stellvertretende Festivaldirektorin bei StAnza (Schottlands internationalem Lyrikfestival), übersetzt vor allem literarische Texte aus dem Deutschen ins Englische, leitet den Buchclub der Lighthouse Buchhandlung in Edinburgh, der übersetzte Schriftstellerinnen diskutiert, und vieles mehr. Sie wurde schon erwischt, wie sie fahrradfahrend gelesen hat (was sie nicht empfehlt) und kann ein falsch gesetztes Apostroph aus fünfzig Metern Entfernung erkennen.


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