September 2022
Mithu Sanyal: Identitti

Bucheinband: Identitti
© V&Q Books

Mithu Sanyals Debütroman erzeugt spielerische Parallelen zu Muriel Sparks Die Blütezeit der Miss Jean Brodie.

Mit 13 war ich von Die Blütezeit der Miss Jean Brodie (übersetzt von Andrea Ott) ziemlich besessen – Muriel Sparks Roman über die charismatische, aber wirklich problematische Lehrerin und die Schülerinnen, die sie prägen will. Knapp 20 Jahre später liebe ich Sparks Humor noch immer sowie ihre Vorliebe für menschliche Absurditäten und ihre Gabe, ständig zu untergraben, was die Lesenden glauben zu verstehen.

Auf Miss Jean Brodie und ihre Blütezeit wird ein paar Mal in Mithu Sanyals Debütroman Identitti angespielt. Auf den ersten Blick wirken die beiden Bücher Welten voneinander entfernt: Sparks Roman ist (irreführend) zu einer Art Kurzbezeichnung für ein vergangenes, vornehmes (weißes) Edinburgh geworden, während das zügellos witzige Identitti fest im 21. Jahrhundert steht und voller Tweets, Blog-Posts und postkolonialer Theorie ist. Schaut man aber genauer hin, werden die Parallelen klar, nicht nur in Sanyals scharfem Humor und der Art, wie sie den Boden unter den Füßen von Figuren und auch Lesenden wegzieht, sondern auch in der komplexen Dynamik zwischen Saraswati, einer charismatischen Professorin postkolonialer Theorie, und den Studierenden, deren Ideen sie prägen will.

Der Roman ist aus der Perspektive der Studentin und Bloggerin Nivedita erzählt und beginnt an dem Tag, als Saraswati – die in der ersten Seminarsitzung des Semesters alle weißen Studierenden rausgekickt hat – geoutet wird: Die öffentliche Intellektuelle, die sich als indisch ausgibt, ist eigentlich selbst weiß. Die Feststellung lässt Nivedita, die Saraswati immer angehimmelt hat, auch ihre eigene Zugehörigkeit infrage stellen. Als Kind eines indischen Vaters und einer deutschen/polnischen Mutter, das früher „Kokosnuss“ genannt wurde, hatte Nivedita nie das Gefühl, Anspruch auf ihre eigene Identität zu haben, bis Saraswati ihr eine Sprache dafür gab. Plötzlich gerät ihr Fundament wieder ins Wanken. Währenddessen fangen der öffentliche Aufschrei und der Twitter-Shitstorm erst an. Wir folgen dem Skandal auf Social Media zusammen mit Nivedita, wobei Sanyal eine große Bandbreite an unterschiedlichen Stimmen und Perspektiven zusammenbringt.

Das hätte eine schmerzhafte Lektüre werden können – ist es aber nicht. Ohne jemals das, was Saraswati gemacht hat, kleinzureden, wird das Buch durch Sanyals Witz, Niveditas Mitgefühl und – ja – Saraswatis Charisma einfühlsam, aufschlussreich und urwitzig. Außerdem ist die Reaktion von Identitti auf unsere Debattenkultur, in der man komplett Recht haben muss, um nicht total falsch zu liegen, irgendwie zutiefst tröstlich. Nivedita erkennt früh, dass ihre Kommiliton*innen, die verletzt und sauer über Saraswatis Betrug sind, zwar Recht haben, aber mit ihren immer stärkeren Angriffen auf Saraswati keinesfalls im Recht sind. Mit Bezug auf James Baldwin (und ja, nach Identitti wirst du eine umfassende Lektüreliste haben), versucht Nivedita zu verstehen, wie wir einander lieben können, auch wenn wir unterschiedlicher Meinung sind.

Es gibt so viel mehr, worüber ich gerne schreiben möchte: Niveditas Gespräche mit der Göttin Kali, ihre unkonventionellen Blog-Posts, und – geben wir es zu – die glühende sexuelle Spannung zwischen Nivedita und Saraswati. (Das habe nicht nur ich bemerkt, oder?) Aber vor allem muss ich Alta L. Prices großartige Übersetzung ins Englische feiern. Die besten Übersetzungen sind für mich kreativ und bereit Risiken einzugehen und Price tut genau das, um Sanyals Humor und Vielsprachigkeit zu erfassen. Vor allem bei ihrer Übersetzung von Niveditas Satz „Move over, Venus!“ (ja, auch im Original auf Englisch geschrieben) als „Scooch your cooch over, Venus!“ musste ich mit Freude losprusten. Price beschreibt in ihrem Nachwort, dass wir oft dem, was angeblich durch die Übersetzung verloren geht, nachtrauen, ohne anzuerkennen was wir dabei auch gewinnen. So viel wird durch und in dieser Übersetzung gewonnen. Worauf wartet ihr noch? Lest dieses Buch!

Über die Autorin

Annie Rutherford macht Sachen mit Wörtern, und verfechtet übersetzte Literatur aller Arten. Sie arbeitet als Autorin, Übersetzerin und Veranstalterin, und recherchiert im Moment die Möglichkeit, eine Residenz für Schriftsteller*innen im Exil in Edinburgh zu etablieren. Sie  leitet den Buchclub der Lighthouse Buchhandlung in Edinburgh, der übersetzte Schriftstellerinnen diskutiert, und kann ein falsch gesetztes Apostroph aus fünfzig Metern Entfernung erkennen.

Reservieren Sie sich den deutschen Originaltitel Identitti in der Glasgower Bibliothek aus.

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