Dezember 2022
Olivia Wenzel: 1000 Serpentinen Angst

1000 Serpentinen Angst / 1000 Coils of Fear
© S. Fischer Verlage / Dialogue Books

Fans von Jeanette Winterson werden auch Olivia Wenzels Debütroman mögen.

Vor ungefähr einem Jahr, als ich die Planung für diesen Blog in dem kommenden Jahr machte, merkte ich mit einem Schock, wie überwiegend weiß die Autor:innen, die ich bis dahin rezensiert hatte, waren. Normalerweise versuche ich bewusst in meiner Arbeit eine Plattform für unterrepräsentierte Stimmen zu schaffen, und ganz ehrlich, ich war ziemlich entsetzt. Als ich aber anfing, Kolleg:innen um Empfehlungen für diverse Bücher zu bitten, musste ich erkennen, dass ich nicht alleine die Schuld trug. Strukturelle Ungleichheiten in der Literaturwelt und der weiteren Gesellschaft werden oft dadurch deutlich, wenn man anschaut, welche Autor:innen übersetzt werden, was auch hier sichtbar ist.

Glücklicherweise hat die Lage sich im Laufe des letztes Jahres verändert: Mehrere fantastische deutsche Autor:innen of color haben Verlage in Großbritannien gefunden. Dabei sind meine drei Lieblingsbücher von 2022: Mithu Sanyals Identitti, Shida Bazyars Drei Kamaradinnen (das 2023 in englischer Übersetzung von Ruth Martin erscheint) und Olivia Wenzels 1000 Serpentinen Angst. Alle drei gehören zu den innovativsten, anspruchsvollsten und fesselndsten Büchern, die ich in den letzten Jahren gelesen habe, und bieten englischsprachigen Lesenden eine spannende neue Sicht auf zeitgenössische deutsche Literatur, weit entfernt von den Büchern von ernsthaften jungen Männern über ernsthafte junge Männer, die manchmal im deutschen Feuilleton vorherrschen. 

Als letztes habe ich Wenzels 1000 Serpentinen Angst gelesen. Der Roman folgt einer jungen Frau aus Ostdeutschland über ein paar Jahren, während sie versucht, mit dem Tod ihres Bruders und dem Rassismus, mit dem sie alltäglich konfrontiert ist, klarzukommen. Ihre off-the-grid weisse deutsche Mutter und ihr angolanischer Vater, der sich gelegentlich über Facebook meldet, sind dabei keine Hilfe. 

Wenzels Darstellung von Angst (wie leben in einer permanenten Notfallsituation) ist unmittelbar und herzzerreißend, und ihr häufiges Bewusstsein, die einzige Person of Color im Raum zu sein, vermittelt an die Lesenden einen Eindruck von Missbehagen und Wachsamkeit. Das ist aber auch ein Buch mit viel Mitgefühl und v.a. viel Humor. Wenzel hat ein Auge für die Absurditäten menschlicher Interaktionen, die oft einen Schock-Moment von Selbsterkenntnis für die Lesenden haben. Zu einem Zeitpunkt z.B. hört die Erzählerin aus reiner Peinlichkeit auf, mit Asylbewerber:innen ehrenamtlich zu arbeiten: „SORRY, LEUTE! ICH BIN MORALISCH SO ERHABEN, DASS ICH EUCH NICHT HELFEN KANN. BYEEE – SEE YOU NEVER!“ 

Im Laufe des Romans wechselt Wenzel zwischen unterschiedlichen Formaten, und zusammen mit ihrer Einsetzung des Fantastischen, um Verlust und Trauma darzustellen, was die emotionale Breite des Romans erweitert, hat mich das an meinen Lieblingsroman von Jeannette Winterson erinnert. 1000 Serpentinen Angst wechselt zwischen typischer romanhafter Prosa, wunderschönen Prosagedichten und Dialogen zwischen einem „du“ und „ich“, die fast wie Verhöre klingen. Am Anfang erinnert das an die Erfahrungen der Erzählerin bei der Passkontrolle, und später wirkt es wie ihre Gespräche mit ihrer Therapeutin: Dabei verändert sich der Ton des Fragenden immer weiter (streitlustig, hilfreich, herausfordernd), während die eigene Selbsterkenntnis wächst und sich verändert. Trotz der Ich-Erzählerin hat das Buch viele Stimmen, wobei Wenzels Erfahrung als Theaterautorin erkennbar ist. 

Oft versuche ich, Menschen zu erklären, dass Diversität in der Literaturwelt eine Frage der Ethik, aber auch der Qualität ist: Repräsentation und Inklusion sind ohne weiteres wichtige Ziele, aber sie sind auch notwendig, wenn wir sicher gehen wollen, dass wir die besten Stimmen, die besten Geschichten hören und wahrnehmen. Eine dieser besten Geschichten ist 1000 Serpentinen Angst.

Über die Autorin

Annie Rutherford macht Sachen mit Wörtern, und verfechtet übersetzte Literatur aller Arten. Sie arbeitet als Autorin, Übersetzerin und Veranstalterin, und recherchiert im Moment die Möglichkeit, eine Residenz für Schriftsteller*innen im Exil in Edinburgh zu etablieren. Sie  leitet den Buchclub der Lighthouse Buchhandlung in Edinburgh, der übersetzte Schriftstellerinnen diskutiert, und kann ein falsch gesetztes Apostroph aus fünfzig Metern Entfernung erkennen.

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