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Ein Statement
Das ‚Blinklicht‘

Ein Blick zwischen Häuserfassaden zum blauen Himmel
Foto (Zuschnitt): Alfons Morales © unsplash

Der italienische Schriftsteller Erri De Luca über den globalen Süden als Quelle der Zukunft, über den europäischen Alptraum und über Schriftsteller als Partisanenvorhut einer neuen EU. Ein Statement.

Von Erri De Luca

Der Leuchtturm, der an der Küste oder auf einer vorgelagerten Klippe steht, warnt mit Blinklicht. Sein Signal im Schluckauf-Rhythmus bringt kurze Erhellungen. So handelt Europa: Es kann nur zeitweise Licht ins Dunkel bringen. Zum Beispiel öffnet es mal seine Grenzen für den Durchzug der Flüchtenden, dann schließt es sie wieder mit dem Unterbrechungsschalter.

Europa leidet an einem Irrtum: Es hält den Mittelmeerraum für ein Problem. Spanien, Italien und Griechenland machen ihm Sorgen wegen ihrer Haushaltsbilanz. Diese Staaten werden angesehen wie wenig vertrauenswürdige Kunden eines Kreditinstituts. Europa misstraut dem Süden, seinem eigenen Süden.
  
Manchmal rufe ich ein Lächeln hervor, wenn ich sage, dass es mehr Süden als Norden auf der Welt gibt. Denn der Süden bleibt nicht in seiner Hemisphäre, er steigt über den Äquator hinauf, schließt Nordafrika ein, breitet sich bis zum Mittelmeer aus. Der Süden ist das vorherrschende Maß der Geographie und der Demographie. Europa verdankt dem Mittelmeer fast alles, von seinem antiken Namen bis zu einer Myriade Vokabeln in seinen Wörterbüchern, von der Architektur bis zum Wein, von der Geometrie bis zur Astronomie, von der Philosophie, den Zahlen, dem Theater, dem Öl bis zu seiner monotheistischen Gottheit. Die europäische Kultur entstand aus der südlichen Erfindungsgabe. Der Süden ist fruchtbar an Geburten, an Arbeitskraft. Der Süden ist die Quelle der Zukunft, ihr Energiereservoir.

Als Bürger des Mittelmeerraums erkenne ich in allen, die in Ländern mit Küsten geboren wurden, meine Blutsbrüder und -schwestern. Heute lerne ich, meine Blutsgeschwister auch in allen zu erkennen, die in diesem Meer gestorben sind. Nehmen wir an, dass man mit Schlauchbooten, die führerlos auf ruhiger See treiben, Schiffbruch erleiden kann. Nehmen wir an, dass der menschliche Körper das einträglichste Frachtgut ist, das sich über das Meer der Zivilisation transportieren lässt.

Homer hat es „eine flüssige Straße“ genannt. Es war unsere Hauptstraße. Die an unseren Angelhaken hängenden, in unseren Netzen gefangenen Fische ernähren sich von Körpern, die wie Samen in den Wind geworfen werden. Für diese Reisenden des Unglücks habe ich mir das Zurückweichen der Wasser des Roten Meeres gewünscht, den Durchzug trockenen Fußes, der allen vor Unterdrückung Flüchtenden zusteht.
Europa hatte die Insel Lampedusa als seine Botschafterin im Mittelmeer. Sie war ihrer Aufgabe gewachsen, die Zivilisation des ganzen Kontinents zu verkörpern.
 
Heute ist Europa die zweite Front eines weltweiten Bürgerkriegs gegen den Islam. Er wird nicht aufhören, bis eines der beiden Lager besiegt ist. Europas Feind ist das neue Kalifat, das sich auf die ersten Kalifate beruft, die von Persien bis Spanien die halbe damalige Welt beherrschten. Mit seiner territorialen Ausdehnung ist das neue Kalifat der Alptraum, der vor allem die islamische Welt erschüttert und dadurch auch Europa. Der militärische Sieg über diesen Alptraum ist der Befehl der Stunde. Wichtige, wertvolle Alliierte waren darum die Kurden, die die Truppen des Kalifats zwischen Syrien und dem Irak zum Rückzug gezwungen haben. Heute werden die Kurden vom Sultanat der Türkei angegriffen, und Europa begnügt sich mit Gesten des Bedauerns.

Heute muss Europa in seinem Süden das Zentrum politischen Handelns erkennen. Ich bin ein Partisan der europäischen Union und glaube, dass die Mitgliedsstaaten sich auf eine stärkere Einheit, auf umfassendere Handlungsvollmachten für eine Zentralregierung zubewegen müssen. Europa entstand, um faschistische und nationalistische Tendenzen zu verhindern. Es begann mit wenigen Staaten. Mit einem ähnlichen Kern muss es jetzt wieder beginnen. Wenn Europa versucht, seinen jetzigen Zustand zu bewahren, wird es verlieren. Angesichts der neuen Tatsachen muss die Sprunglatte höher, nicht niedriger gestellt werden.
 
Die Aufgabe des Schriftstellers ist eine leichtere als die eines Vertreters von Institutionen. Literatur schafft weltweit sofort eine Einheit zwischen den Lesenden und dem Schreibenden. Für Bücher gibt es keine Grenzen. In Diktaturen, unter der Zensur, begibt sich das Buch auf Schleichwege, aber es unterwirft sich nicht. Der Schriftsteller ist bereits Teil einer gestärkten europäischen Einheit. Darum bilden wir eine kleine Vorhut, die ihr Lager in der Zukunft aufgeschlagen hat.

Ich kehre zum Bild des Leuchtturms zurück. Europa muss ein konstantes Licht ohne Unterbrechungen ausstrahlen, um die Dunkelheit und Verwirrung zu erhellen.

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