Kinofest
Herr Bachmann und seine Klasse

Herr Bachmann und seine Klasse
© Madonnen Film

„Hast du eine Ehefrau, hast du Probleme", erwidert Hasan auf die Frage, warum er später denn nicht heiraten wolle. „Hast du einen Ehemann, hast du Probleme“, gibt darauf Stefi sichtlich genervt von Hasans Kommentar zurück. Nein, dieser Dialog entstammt nicht einer der Diskussionen zum Thema „Neue Welle des Feminismus gegen toxische Maskulinität im patriarchalen System“ wie sie dieser Tage in Indonesien häufiger geführt werden. Dieses Gespräch zwischen zwei Teenagern an einer Schule in Deutschland ist dem Film Herr Bachmann und seine Klasse entnommen. Der Dokumentarfilm könnte den einen oder anderen Zuschauer zunächst abschrecken, da er mit einer Dauer von 217 Minuten überdurchschnittlich lang ist.

Unvergessliche Erlebnisse aus der Schulzeit

Als ich diesen Film anschaute, wurden schlechte Erinnerungen an meine eigene Schulzeit von der Grundschule bis zum Beginn meines Studiums geweckt. Die meisten dieser schlechten Erinnerungen habe ich meinen Lehrern zu verdanken. Es gibt kaum jemanden aus meiner Schulzeit, der bei mir einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen vermocht hätte. Eine Ausnahme ist meine Kindergärtnerin im Gayo-Hochland. Schlechte Erfahrungen konnte ich ansonsten seit der Grundschule sammeln. Einmal wurde ich von einem Lehrer mit einem etwa ein Meter langen Holzlineal geschlagen, bis das Lineal entzweibrach.

Auch in der Mittelschule habe ich Demütigung erfahren, etwa als mir einer der Lehrer befahl, ich solle mich vor die gesamte Klasse stellen und einen Tisch hochheben. Als ich die Oberschule besuchte, wurde der stellvertretende Schulleiter, der später mein Klassenlehrer war, zum Komplizen des Schulleiters, der von meinem Vater Geld dafür verlangte, dass ich diese Schule überhaupt besuchen durfte, nur weil ich meinen Abschluss an einer Mittelschule in einer anderen Stadt gemacht hatte. Während des Studiums kommentierte ein Dozent einmal meine Haare, die ich damals - fast wie Ed Sheeran heute - etwas länger und dafür aber ungekämmt trug.

Als ich also im Film die Titelfigur Herr Bachmann – der sich eher wie ein verkrachter Musiker als ein Lehrer kleidet – dabei zusehe, wie er mit seinen Schülern umgeht, ist es, als entdeckte ich eine Oase; das Verhältnis des Lehrers zu seinen Schülern und umgekehrt ist herzlich und respektvoll.
Herr Bachmann und seine Klasse
© Madonnen Film

Immer komplizierter: mein Leben und meine Welt als Jugendliche

Dieser Film romantisiert nicht das Auftreten eines Lehrers, dessen Erziehungsstil sich von denen anderer Lehrer unterscheidet. Tatsächlich wirkt die gesamte Klasse von Herrn Bachmann außergewöhnlich und besonders. Im Klassenzimmer sind immer Musikinstrumente zu finden, es gibt sogar ein Schlagzeug, und häufig werden diese im Unterricht eingesetzt, damit es den Schülern nicht langweilig wird. Vor allem aber handelt dieser Film von den Problemen der Schüler, alle im Alter zwischen 12 und 14 Jahren, vom bittersüßen Leben von Teenagern, die versuchen, sich in dieser immer komplizierter werdenden Welt zurechtzufinden.

Erschwerend kommt für die Schüler hinzu, dass es sich bei ihnen um Kinder von Einwanderern handelt, die etwa aus der Türkei, Kasachstan, Bulgarien, Rumänien oder Marokko für eine bessere Zukunft nach Deutschland kamen. Die Schwierigkeiten der Schüler sind vielfältiger Art: So sprechen die meisten von ihnen noch nicht fließend Deutsch (am Ende des Films bekommen die meisten Protagonisten die Note Ausreichend in Deutsch), und darüber hinaus mussten einige von ihnen schon in sehr jungen Jahren erfahren, was es heißt sich fehl am Platz zu fühlen, weil sie in einem Land leben, das sie noch nicht gut kennen. Sie werden schon als Kinder mit der Frage „Wo ist deine Heimat?“ konfrontiert, die sie mit düsterer Miene und Tränen in den Augen beantworten. „Wie kannst du Marokko als deine Heimat betrachten, wenn du nur zwei Jahre dort gelebt hast?“, fragt etwa im Film eine Lehrerin, ebenfalls mit Migrationshintergrund.

Bei diesen Fragen musste ich an das Leben jener Indonesier denken, die nach den Ereignissen von September 1965 und den darauffolgenden Unruhen nicht nach Indonesien zurückkehren konnten. In unseren Augen führten sie ein glückliches, komfortables Leben, weil sie in Europa waren – wie das Beispiel im Film Laskar Pelangi (dt. Die Regenbogentruppe) zeigt. In Wirklichkeit aber waren die Menschen im Exil einsam und sehnten sich nach der „Heimat“, die sie aber verstoßen hatte.

Stadtallendorf, der Schauplatz des Films, ist ein Dorf mit dunkler Geschichte. In diesem Dorf bauten die Nazis Waffenfabriken und Arbeitslager. Nach dem 2. Weltkrieg wurden dort mehrere Fabriken, darunter eine Metallfabrik, weiter betrieben. Es wurden viele Gastarbeiter aus der Türkei angeworben, da sich zu wenige Deutsche fanden, die dort arbeiten wollten. Das ist die Erklärung, warum die meisten Schüler in der Klasse von Herrn Bachmann die Kinder von Einwanderern bzw. Gastarbeitern sind.

Ihre Eltern so hart arbeiten zu sehen, wirkt sich offenbar auch auf die Zukunftsvisionen der Kinder aus. Rabia zum Beispiel antwortet auf die Frage,  ob sie eines Tages heiraten oder einen Partner haben wolle, Folgendes: „Ich werde später einfach hart arbeiten. Ich weiß nicht, ob ich einen Partner haben will oder nicht."

Ein Dokumentarfilm, der Emotionen zum Ausdruck bringt

Herr Bachmann und seine Klasse ist ein beobachtender Dokumentarfilm in seiner besten Form. Die Vision der Regisseurin kommt durch eine starke Bildersprache zum Ausdruck, die gesamte Handlung wird mit sorgfältiger Montage aufgefächert. So lernen wir Herrn Bachmann und mehrere seiner Schüler, die im Mittelpunkt des Films stehen, kennen. Der gelungenen Montage des Films ist zu verdanken, dass uns am Ende viele Überraschungen erwarten, insbesondere für diejenigen von uns, die es gewohnt sind, Menschen nach ihrer körperlichen Erscheinung und ihrem religiösen Hintergrund zu beurteilen. So erscheinen uns zum Beispiel Schülerinnen, die wir zunächst als freidenkende Feministinnen erleben, plötzlich konservativ, wenn sie über andere Themen sprechen. Oder wir erkennen, dass der Schüler, der gut boxen kann, sensibel und verletzbar ist. Die 217 Minuten, die der Film dauert, vergehen wie im Fluge. Wir sind ständig gespannt, welche Geschichte wie weitergehen wird.

Der Film Herr Bachmann und seine Klasse führt mir wieder vor Augen, warum ich beobachtende Dokumentarfilme liebe. Wir erleben mit ihnen einfache, aber aufrichtige Gespräche, die im Grunde genommen menschlicher sind. Ich bin sicher, dass vieles von dem, was wir darin sehen, für Drehbuchautoren von Spielfilmen unvorstellbar bleibt. Körpergesten etwa, mit denen Menschen unwillkürlich ihre Emotionen zum Ausdruck bringen, nehmen wir sicherlich anders wahr, wenn sie von Schauspielern „gespielt“ werden. Mit den Worten der Cinephilen gesprochen hat dieser Film einen langen „aftertaste“. Ohne uns darüber bewusst zu sein, haben wir uns längst in die Charaktere verliebt.
 

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