Arthouse Cinema - Alexander Kluge
„Abschied von Gestern”: Das Gestern im Heute ausdrücken

“Abschied von Gestern”: Das Gestern im Heute ausdrücken
© Goethe-Institut Indonesien

Uns trennt von gestern kein Abgrund, sondern die veränderte Lage

Mit diesem Satz von Alexander Kluge beginnt sein Film Yesterday Girl (1966). Das Konzept der „Vergangenheit“ trägt in sich bereits eine moralische Belastung für die deutsche Nachkriegsgesellschaft, von ihrer Niederlage im Ersten Weltkrieg bis zum Völkermord, den die Nationalsozialisten in verschiedenen Regionen Europas begangen haben.

Die Menschen trugen auch die Last der Wiedergutmachung nach dem Zweiten Weltkrieg: Sie lebten unter alliierter militärischer Besatzung und waren während des Kalten Krieges Pioniere der Streitkräfte des Westblocks und des Ostblocks. Reparationen für die „Vergangenheit“ durch die Konsolidierung des Systems und des Kapitals beraubten die deutsche Gesellschaft jedoch der humanen Versuche, die Vergangenheit und Gegenwart zu verstehen.
Der Raum für Trauer wurde durch die Systematisierung von Elementen der Gesellschaft und die Zurückhaltung, über Geschichte oder Politik zu sprechen, eingeschränkt.

 

Kluge und seine Freunde vom Neuen Deutschen Film versuchten, diesen Raum wieder zu öffnen. Diese Gruppe junger Regisseure strebte danach, den Film von der konventionellen Ordnung zu befreien und den Weg für den Dialog mit der deutschen politischen Geschichte zu ebnen. Abschied von Gestern (Yesterday Girl), einer der frühesten Filme des Neuen Deutschen Films, ist in diesem Sinne sehr inspirierend. Alexander Kluges erster Spielfilm wurde 1966 bei den Filmfestspielen von Venedig mit dem Silver Lion Award ausgezeichnet. Die Geschichte basiert auf Kluges Kurzgeschichte Anita G., die von realen Ereignissen inspiriert ist. Anita (Alexandra Kluge), die Hauptfigur, ist eine der hunderttausenden Einwohner Ostdeutschlands, die zwischen 1948 und 1982 nach Westdeutschland ausgewandert sind. Der Beginn des Films zeigt, wie sie wegen Diebstahls angeklagt wird und im Gefängnis sitzt. Als Anita aus der Haft entlassen wird, ist sie entschlossen, ihre Vergangenheit hinter sich zu lassen, aber ihr Vorsatz lässt sich in der Realität nicht so einfach umsetzen. Aus trivialen Gründen wird sie immer wieder von ihren Arbeitsstellen entlassen. Wirtschaftliche Schwierigkeiten zwingen sie dazu, mehrmals umzuziehen, bis sie schließlich im Büro eines Angestellten des Kulturdienstes als dessen Geliebte unterkommt.

Produktive und gut erzogene Individuen

Anita ist ein Teil der Gesellschaft, das die bestehenden sozialen Institutionen nicht regulieren kann. Während des gesamten Films sind Institutionen in fast jeder Situation präsent: von Rechtsinstitutionen (Gerichte und Rehabilitationszentren für Gefängnisse), Wirtschaftsinstitutionen (der Kassettenverkäufer und das Hotel, für die Anita arbeitet), Bildungseinrichtungen, Familieneinrichtungen bis hin zu staatlichen Einrichtungen. Diese Institutionen sind Teil des staatlichen Systems, das weiterhin reproduziert wird, um das soziale Leben aufrechtzuerhalten und produktive und gut erzogene Individuen hervorzubringen. In der Gesamtheit ist dies der Körper der Industriegesellschaft in städtischen Gebieten, der auf wirtschaftliche Effizienz und Verbesserung hin reguliert ist, so wie die westdeutsche Gesellschaft in der Zeit des Wirtschaftswunders nach dem Zweiten Weltkrieg rasch gewachsen ist.
 
Jeder Einzelne hat jedoch unterschiedliche Erfahrungen, und dieser Film zeigt die Schwierigkeiten des Systems im Umgang mit Personen, die nicht kategorisiert werden können. Als Einwanderin ohne Verwandte, Freunde, Kapital, Hochschulabschluss oder andere sozialen Netzwerken hat Anita nur begrenzte Möglichkeiten, als Arbeitnehmerin zu überleben. Als sie ihren Job verliert, weil sie von ihrem Chef des Diebstahls beschuldigt wird, kann sie ihre Rechte nicht geltend machen. „Ein gutes Leben haben“ scheint also nicht für alle Menschen erreichbar zu sein. Ihre Dozenten an der Universität antworten nur in akademischer Fachsprache, wenn Anita um Rat fragt. Pichota, der Geliebte, der Anita beherbergt, und von dem sie später ein Kind erwartet, kann ihr nicht helfen, weil er selbst verheiratet ist. Institutionelle „Schubladen“ werden zu Hindernissen bei der Lösung realer Probleme.
 
Diese systematische Logik wird zu Beginn des Films in der Szene im Gericht parodiert. Anitas Aussage über ihre Großeltern, die Opfer des Holocaust waren, und das Gefühl der Unsicherheit, das sie in Leipzig erlebte, wird vom Richter abgelehnt. Der Richter betrachtet Anitas Familiengeschichte als irrelevant für ihre aktuelle Situation. Stattdessen beschuldigt er Anita, nach Westdeutschland gegangen zu sein, um dort ihr Glück zu versuchen. In dieser Szene validieren die staatlichen Behörden nicht nur die Erfahrungen einer als marginalisiert erachteten Person, sondern erfinden auch ihre Vergangenheit neu und bestimmen ihre Zukunft. Trauma, Geschichte und andere Elemente der menschlichen Komplexität, die das System nicht lesen kann, müssen wieder in Ordnung gebracht werden. Anita ist eine Person, die ständig versucht, die Dinge durch Verfahren wie Prüfungen, Coaching, Anpassungen an die Arbeitswelt und Anweisungen von Vorgesetzten bei der Arbeit in Ordnung zu bringen. Es scheint jedoch, dass für den Dialog mit Menschen und seine Komplexität weitere Vorstellungskraft erforderlich ist, wenn das System Anita immer wieder nur in ihre Ausgangssituation zurückbringt.

Fragmentiertes Bilderlebnis

Kluges Anklage hört nicht bei der Erzählung auf, sondern äußert sich auch ästhetisch. Das Publikum wird diesen Film als fragmentiertes Bilderlebnis empfinden. Übertragungen von Bildern oder Szenen entsprechen nicht immer der narrativen Logik, und verschiedene Kameraeinstellungen - manchmal kombiniert mit Text, Illustrationen oder symbolischen Montagen - kommen teilweise in einer einzelnen Szene vor. Wir können dies beispielsweise sehen, wenn Anita eine fremdsprachige Kassette verkauft: Die Kamera zeigt Nahaufnahmen des Gesichts von Anitas Manager, der ihr Anweisungen gibt; Anita, im Gespräch mit dem Kunden, wird aus der Ferne dokumentarisch festgehalten; das Licht der Straßenstände auf dem Bürgersteig, aufgenommen aus der Perspektive der ersten Person; und die Lichter der Stadt in der Nacht, das zu einer erhöhten Bildgeschwindigkeit führt. Manchmal weicht die Montage von der zu konstruierenden Erzählung ab: Szenen mit Anweisungen von Anitas Manager werden mit Ausschnitten aus Kindheitsfotos von Anita und ihrer Familie unterbrochen; dann wiederum sehen wir in der Szene, in der Anita vom Hotelmanager interviewt wird, wie er plötzlich das Thema wechselt, um von seinen Erfahrungen als Kriegsgefangener zu erzählen.
 
Diese Form des Kinos erinnert an die Jump-Cut-Technik, mit der Jean-Luc Godard die Realität des Kinos demonstriert, die sich von der realen Realität unterscheidet. Kluge selbst erwähnte Godard und die französische Neue Welle als eine der Inspirationen für den Neuen Deutschen Film, aber in seinen eigenen Filmen formt er die Technik zu etwas Neuem. Der Film wird zu einem Spielplatz für die Suche nach einem humaneren und ignoranteren Redestil, um deutsche Institutionen und die Gesellschaft zu kritisieren, die vom System besessen sind. Er drückt die Realität in Form einer Collage aus, in der verschiedene Formen und Empfindungen gleichzeitig erlebt werden können. Seltsam, nicht linear, aber vertraut mit dem menschlichen Körper und der Psyche, die die Realität erfahren. Die Art und Weise, wie Menschen Raum und Zeit wahrnehmen, kann sehr flexibel sein und in jedem Moment variieren. Manchmal können alltägliche Wahrnehmungen durch bestimmte Bilder, Objekte oder Erinnerungen im Kopf einer Person unterbrochen werden, wie z. B. Bildunterbrechungen und Änderungen in dem Erzählstrang dieses Films.
 
Der Film endet nicht linear, sondern kreisförmig: Anita geht zurück ins Gefängnis. Obwohl Spuren der Vergangenheit aus Gründen der Veränderung und des Fortschritts widerlegt werden können, ist sie immer noch Teil der Gegenwart. Mit Yesterday Girl stellt Alexander Kluge eine neue Art vor, die Realität seiner Zeit zu erleben. Der „neue Weg“ wird hier nicht immer als fortschreitende Zunahme interpretiert, aber er eröffnet Raum, um Geschichte und Gegenwart zu diskutieren, ohne die menschliche Erfahrung zu leugnen, die nicht in den Kategorien des Systems enthalten ist.
 

AutorIN

Dini Adanurani
© Dini Adanurani
Dini Adanurani ist Schriftstellerin und Forscherin und lebt in Jakarta. Sie interessiert sich für Filmkritik, Kunst und Reflexionen im Alltag. Sie ist Absolventin des Studiengangs Philosophie an der Universität von Indonesien. Derzeit schreibt Dini häufig im Journal Footage und forscht für Kultursinema.

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