Arthouse Cinema - Harun Farocki
How to Live in the FRG: Angst und Entfremdung

How to Live in the FRG: Angst und Entfremdung
© Goethe-Institut Indonesien

Farocki montiert seine Filmaufnahmen als Fragmente zu Collagen, beinahe ohne Narration, sodass lediglich eine Aneinanderreihung von Ideen zu sehen bleibt. 

Auf Randall Halles Frage zum Film Leben BRD (1990) antwortete Harun Farocki, dass er sich bewusst für den englischen Titel - How to live in the FRG (die offizielle englische Bezeichnung für Westdeutschland lautet ‘Federal Republic of Germany’) – entschieden habe, da er wie die Überschrift aus einem Benutzerhandbuch oder “User Manual” klingt. Scherzend erklärt Farocki, dass der von ihm gewählte Titel wohl den einzigen Text darstelle, den das Warenwirtschaftssystem über sich selbst geschrieben habe und möglicherweise auch die einzige kapitalistische Literatur zum Kapitalismus sei (Halle, 2003). Falls Sie eines Tages ein elektronisches Gerät kaufen sollten, von dem Sie leider nicht wissen, wie es zu bedienen ist, dann sollten Sie einfach in allen Winkeln des Verpackungsmaterials nachsehen bzw. das Innere des Kartons durchforsten, bis Sie die rettende Anleitung finden. Die moderne Gesellschaft organisiert sich selbst in prädiktiver Logik und richtet lebensrettende Sicherheitsnetze für sämtliche Lebensbereiche ein.

Das Problem ist nur, dass diese Art und Weise sich die Welt zu erbauen nicht auf Anhieb störungsfrei läuft. Wenn wir genau hinschauen, ist das, was Farocki mit den 32 Szenen seines Films darzustellen versucht, nichts anderes als eine Welt mit Lücken. Ein Beispiel ist Westdeutschland mit seinem “Wirtschaftswunder” als Weltwirtschaftsmacht während des Kalten Krieges. Zwei Jahre vor dem Fall der Mauer, die Deutschland in zwei gegensätzliche politisch-ökonomische Ausprägungen trennte, griff Farocki zu seiner Kamera. Es bestanden Probleme möglicherweise im Unterbewusstsein der damaligen westdeutschen Gesellschaft, wie die Angst, die bei der Auslegung der Geschichte aufkommt.

Das Leben des Menschen: Zwischen Gewissheit und Annahme

Farocki montiert seine Filmaufnahmen als Fragmente zu Collagen, beinahe ohne Narration, sodass lediglich eine Aneinanderreihung von Ideen zu sehen bleibt. Zunächst kombiniert er körperliche Arbeit und maschinelle Arbeit als Simulationsmodi der virtuellen Welt. Sex etwa wird auf der Benutzeroberfläche eines Videospiels simuliert. Die einzelnen Fragmente werden dann so arrangiert als folgten sie dem Produktions- und Reproduktionzyklus von Sicherheitsnetzen menschlichen Lebens: angefangen von der Szene, bei der eine Hebamme zeigt, wie sie die Geburt eines Kindes handhabt, bis hin zum Versuch eines erwachsenen Menschen, seine Angst vor der Ungewissheit des Lebens zu überwinden.

Der Mensch lebt von Annahmen, von (Produkt-) Vorführungen und von schriftlichen Instruktionen aus User Manuals, welche sich inzwischen zu einem Handbuch für das Leben, einem “Life Manual”, gewandelt haben, und dies bedeutet: Mechanisierung. Die Menschen sind wie ungeschickte Maschinen. Durch Farockis Kamera betrachtet ist Deutschland eine Maschine, die die Haltbarkeit von Produkten testet, ein Härtetest; eine Maschine stampft fortdauernd Matratzen, eine Waschmaschine ist permanenten Erschütterungen ausgesetzt, ein Staubsauger stößt laufend gegen eine Zimmerecke, ein Schreibtischregal ist starken Stößen ausgesetzt, eine Autotür wird immer wieder geöffnet und geschlossen, eine Schranktür zugeschlagen.

Die Zukunft ist nicht mehr als Aneinanderreihung zufälliger Möglichkeiten zu sehen, denn sie wird anhand von Daten aus der Vergangenheit gesteuert. Die Daten sind im Text des Life Manual gesammelt, aus ihnen werden die Koordinaten erstellt, zwischen denen sich ein Individuum bewegen muss, in der Hoffnung, dass es zu keinem tödlichen Unfall kommt – der manchmal banale Züge haben kann. Beispiele sind die Fahrsimulation eines Autos, bei der die Gegebenheiten einer Hauptstraße virtuell nachempfunden sind; Videoaufnahmen von Polizeibeamten, die auf häusliche Streitigkeiten reagieren und diese beenden; eine Bewerbung auf eine Arbeitsstelle und Papierbogen mit einem Angstdiagramm. Jeder wird dem beipflichten, dass Anleitungen oder Instruktionen, die das Leben vieler Menschen erleichtern, im Vorfeld getestet wurden, zumindest um mögliche Risiken zu minimieren und um die Wirksamkeit der Anleitung selbst zu bestimmen. Die Überprüfbarkeit wird überhaupt zu einem wichtigen Prinzip in diesem Life Manual. Angenommen, Sie bewerben sich auf eine Arbeitsstelle und werden aufgefordert, das Zeugnis über ihre Ausbildung vorzulegen, um die Voraussetzungen für Ihre Einstellung zu erfüllen. Das Ziel liegt einzig darin, nachzuweisen, dass Ihre Fähigkeiten bereits überprüft wurden.

Als jedoch die gesamte Folge zusammengestellt war, überkam mich ein seltsames Gefühl, das mich herausforderte, diese Lebensweise tiefer gehend zu hinterfragen. Wenn die Angst der Massen innerhalb öffentlicher Institutionen simuliert wird, stellt sich die weitere Frage, ob diese Simulationen am Ende die Angst erfolgreich überwinden helfen oder gerade andere Ängste auslösen?

Lehrstück: Kritisches Reflektieren unserer Alltagsprobleme

Um die Lebensweise der westdeutschen Gesellschaft kritisch zu reflektieren, bediente sich Farocki dem Lehrstück oder dem pädagogischem Ansatz des Theaters nach Brecht, den dieser vor nunmehr mehreren Jahrzehnten seiner Arbeit zugrunde legte. Brecht übersetzte Gedanken des Marxismus für die Formulierung seiner dramaturgischen Theorie, er analysierte Strategien, wie das Theater wieder als soziale Institution umfunktioniert werden konnte und definierte Neue Dramatik als  grundlegende Konzepte seines Theaters.

Wie Charlene Marie Guy (1993) in ihrer Dissertation Lehrstück und Schaustück: The Unity of Brecht’s Drama erläutert, kritisierte Brecht das aristotelische Drama als Illusion der Wirklichkeit, die rational-kritisches Denken behinderte und es zu einer Kulturware machte. Dem widersetzte er sich mit dem dramaturgischen Mittel des Verfremdungseffekts. Die Verfremdung bildet dabei die Grundlage für die Gestaltung dramatischer Erfahrungen. Das Prinzip besteht darin, die vierte Mauer einzureißen, die die Kunst vom Leben trennt. Reale Objekte und ästhetische Repräsentationen gehen Hand in Hand in den Gesetzen der Wirklichkeit, die die Lebensprozesse bzw. sozialen Kausalitäten bestimmen. Ein Weg in diese Richtung ist die Verlagerung der "Bühne" in den öffentlichen Raum, der in direktem Kontakt mit der Gesellschaft steht, das Theater wird damit zu einem Mittel des kollektiven Lernens (Guy, 1993: 11-27).

Die pädagogische Ansatz des Lehrstücks bedeutet nicht, dass darüber eine bestimmte Ideologie verabreicht wird, sondern er funktioniert über den Prozess des „un-learning“ oder des „Verlernens“, der die Schauspieler dazu bewegt, alltägliche Verhaltens- und Denkweisen, die üblicherweise unbewusst erfolgen, kritisch zu reflektieren (Guy, 1993:32). Über performatives Handeln gewinnen die Schauspieler etwas von dem, was Farocki als „Theaterstück, dessen Vorhang sich nie hebt“ bezeichnet. Er bezieht sich bei diesem Begriff auf eine Erklärung Brechts, wonach bei einem Lehrstück der Schauspieler aus dem Prozess lernt, den er durchläuft, wenn er die Rolle, die er spielt, einnimmt. So geht es beim Lernen um den Prozess und nicht um das Ergebnis. Der von Brecht konzipierte Verfremdungseffekt wurde in das Medium Film transformiert und zwar mittels der Prinzipien der Montage als ästhetische Repräsentationen, die dazu dienen, die Illusion realer Objekte oder realer Ereignisse, die die Schauspieler erfahren, zu wecken.

Die Angst der Massen als Ware

Den Verfremdungseffekt bringt Farocki taktisch besonders in der Schlussszene zur Geltung, wenn er die Küche einer Versicherung und das Paradox der Angst der Masse, mit der die westdeutsche Gesellschaft konfrontiert ist, gegenüberstellt. Versicherungsmakler werden geschult, Ihnen heute bereits eine Zukunft vor Augen zu führen, in der von vornherein sämtliche Risiken verwertbar gemacht werden. Ganz so als hätten Sie eine Krankheit, die sie in Wirklichkeit noch nicht haben oder niemals haben werden. Sie glauben daran, dass Sie, wenn Sie die Versicherungspolice unterzeichnen, sich in einem Sie schützenden System befinden. Auf der anderen Seite werden jene außerhalb dieses Systems weiterhin in Ungewissheit ihrer Zukunft leben. Bei dieser Art von Geschäftsmodell erzielt gerade das Unternehmen den Gewinn aus der Ungewissheit, vor der Sie sich fürchten. Bevor das Risiko eintritt und Sie Ihre Rechte geltend machen, sind Sie verpflichtet, weiterhin Ihre Prämien zu zahlen. Sie bemerken es möglicherweise gar nicht, denn Ihre Angst wird auf eine für Sie nachvollziehbare Weise wie eine Ware gehandelt.

Dass eine solche fatalistische Sichtweise aufkommt, kann ich nicht vermeiden, denn Farocki liefert einen Gedankengang, der das Publikum zu dem Schluss kommen lässt, dass die Nachhaltigkeit solcher Lebenssysteme tatsächlich von einem weichen Gerüst gestützt wird, der die Lücken so schnell und anpassungsfähig füllt. Es braucht vielleicht Scharfsichtigkeit oder ein wenig Muße zum Spielen mit der Kamera, um sich bewusst werden zu können, dass die Konstruktion oder die Gestaltung des modernen menschlichen Lebens ziemlich seltsam aussieht.
 

Autor

Dhanurendra Pandji
© Dhanurendra Pandji
Dhanurendra Pandji wurde 1997 in Temanggung, Zentral-Java, geboren. Er ist Künstler und Schriftsteller und lebt in Jakarta. Als Mitglied des Forum Lenteng ist er derzeit für das Milisifilem Kollektive, den 69 Performance Club und journalfootage.net tätig. Er ist auch für die Filmauswahl des Arkipel - Jakarta International Documentary & Experimental Film Festivals beteiligt.

Top