Interview mit Taís Koshino
In der Schule lernen wir nur beim Thema Eroberung der Neuen Welt etwas über indigene Völker

Tais Koshino
© Tais Koshino

Wie haben Sie von der Bewegung, die Sie in Ihrem Comic vorstellen, erfahren?

Anfang 2020 nahm ich an einem Projekt teil, bei dem wir Illustrationen von bedeutenden brasilianischen Frauen aus der Geschichte anfertigten. Im Laufe des Projektes wurde mir irgendwann klar, dass es kaum indigene Frauen darunter gab. So beschloss ich, nur diese zu illustrieren. Ich begann, über diese Frauen zu recherchieren und als ich diese Beschäftigung vertiefte, stieß ich auf die indigene LGBTQIA+-Bewegung in Brasilien.

Warum sollte die Welt mehr über die Bewegung in Ihrem Comic erfahren?

Die indigene LGBTQIA+-Bewegung in Brasilien kämpft für das Existenzrecht der Indigenen und der LGBTQIA+, für das Recht, als das, was sie sind, gesehen und verstanden zu werden. Die Bewegung zeigt alternative Denkweisen über Sexualität und Gender. Zur gleichen Zeit legt sie offen, wie die bis ins Heute reichenden Auswirkungen des Kolonialismus die als abweichend klassifizierten sexuellen Praktiken und Gender-Identitäten unterdrückt und ausgelöscht haben.

Was war die überraschendste Entdeckung während Ihrer Recherchen?

Die für mich überraschendste Entdeckung war, zu erkennen, wie viel ich über die brasilianische indigene Geschichte nicht wusste. In der Schule lernen wir nur etwas über indigene Völker, wenn es um die Ankunft der Portugiesen um das Jahr 1500 herum geht. Aber sie existierten bereits früher und sie existieren bis heute. Sie haben eine 521 Jahre lange Geschichte des Kampfes und Widerstandes gegen Kolonialismus und Ausbeutung hinter sich.

Was bereitete Ihnen bei der Projektarbeit am meisten Freude?

In der Lage zu sein, der internationalen Community über die Geschichten dieser Frauen und des Aktivismus der indigenen LGBTQIA+ in Brasilien zu erzählen, in der Hoffnung, dass, wenn immer mehr Menschen davon erfahren, die Chance größer wird, dass wir etwas verändern.

Was konnten Sie in den Workshops, den Mentorings und von anderen Teilnehmenden lernen?

Eine Menge! In den Workshops erlebte ich Überraschungen, wenn wir uns über unsere Projekte miteinander austauschten und erkannten, dass die meisten indigenen Menschen des Globalen Südens mit fast genau denselben Problemen im Zusammenhang mit Anerkennung von Land und Regierung konfrontiert sind. In den Workshops haben Nacha und Amruta sehr freigiebig mit uns geteilt, was für sie das Wichtigste bei der narrativen Konstruktion ist. Das Mentoring mit Amruta war für mich enorm wichtig: Sie half mir bei der Entwicklung meines Comics, indem sie mir Fragen stellte und mir rücksichtsvolles Feedback gab.

Welcher Aspekt im Verlauf des Prozesses war für Sie besonders herausfordernd?

Die größte Herausforderung während des Arbeitsprozesses war für mich die Verantwortung, die Geschichte einer anderen Person zu erzählen. Wie kann ich die Geschichte eines Menschen erzählen, zu dessen Community ich selbst nicht gehöre, auch mit Blick auf meine privilegiertere Lebenssituation? Das sind heikle Themen. Der Kontakt und das Lernen mit den Interviewpartner*innen hat mich mit vielen meiner Privilegien konfrontiert.

Wie versuchen Sie, der Gemeinschaft etwas zurückzugeben?

Was ich bislang für sie habe tun können, war, die Interviewpartner*innen zu bezahlen. Angesichts der pandemiebedingten Lage in Brasilien ist das immerhin etwas. Die Veröffentlichung des Comics wird meiner Meinung nach der größte Beitrag sein, den ich für die Community leisten kann, da die indigenen LGBTQIA+ in Brasilien den Comic lesen können und sehen werden, dass die Protagonistin jemand aus ihrer Mitte ist, und mehr Menschen werden mehr über ihren Kampf erfahren.
 
Wie sollte es idealerweise nach der Veröffentlichung des Projekts weitergehen?

Ich wünsche mir, dass das Projekt die jungen und weniger jungen indigenen LGBTQIA+ erreicht, sodass sie den Comic lesen und das Gefühl, allein und falsch zu sein, entkräften können. Ich wünsche mir auch, dass, wenn die internationale Community mehr über diesen spezifischen Aktivismus erfährt, vielleicht ein Wandel eintritt. Im Moment können wir nicht darauf zählen, dass die brasilianische Regierung positive Veränderungen in Bezug auf Menschenrechte implementiert. Ich hoffe, dass ich nach der Veröffentlichung weitere Mittel organisieren kann, um das Buch auf Portugiesisch zu drucken und es an indigene Schulen und Büchereien in Brasilien zu verteilen.

Was sind Ihre Pläne für die Zukunft?

Für mich als lesbische Künstlerin war es ziemlich schwierig, Pläne für die Zukunft zu schmieden. Seit 2019 mit dem Regierungsantritt Bolsonaros und jetzt mit der Corona-Pandemie, die in Brasilien bereits mehr als 500.000 Menschenleben gefordert hat, ist die Zukunft ungewiss. Doch ich hoffe, dass ich weiterhin an Projekten arbeiten kann, die mit meiner Kunst in Verbindung stehen mit dem Ziel, die Stimmen von Minderheiten zu verstärken, um einen Wandel zu bewirken, so dass Menschen ihr wahres Selbst zum Ausdruck bringen können, ohne diese ständige Gewalt befürchten und erleiden zu müssen.

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