Eine Reise durch das Werk von Ulli Lust
Die Frau als Comiczeichnerin
Die bedeutende Comiczeichnerin Ulli Lust gewinnt den Deutschen Sachbuchpreis 2025. Ihr Werk „Die Frau als Mensch“ (Reprodukt) rekonstruiert erstmals die Rolle von Frauen in der frühen Menschheitsgeschichte. Zu diesem Anlass unterhalten wir uns mit ihr über ihre Themen und Werke.
Von Emilio Cirri
Ulli Lust wurde 1967 in Wien geboren und zog in den 90er Jahren nach Berlin. Sie ist eine der wichtigsten Vertreterinnen des deutschsprachigen Comics. Mit der Gruppe Monogatari (zusammen mit den heute sehr bekannten Autoren wie Mawil, Kai Pfeiffer und Tim Dinter) gab sie dem deutschen Independent-Comic neuen Schwung. Ein besonderes Augenmerk legte sie dabei auf den grafischen Journalismus (zu ihren wichtigsten Werken gehört das über das Arbeiterviertel in Halle und die Totenbrücke in Luzern) und Comic-Essays.
Doch erst 2009, mit dem Erscheinen von Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens in den Comic-Läden, wird Lust international bekannt. Die autobiografische Erzählung der Reise zweier junger Frauen Mitte der 80er Jahre von Österreich nach Italien ist eine kraftvolle und dramatische Geschichte, die zwischen dem Wunsch nach Freiheit, der Suche nach sich selbst, dem Verlangen nach intensiven Erfahrungen und dem Abstieg in eine von Gewalt und männlicher Unterdrückung dominierte Welt schwebt. All dies wird in einem direkten Stil, in kratzigem Schwarz-Weiß auf Papier und mit fast dokumentarischer Liebe zum Detail erzählt. Der Comic erhielt Nominierungen und Preise (darunter 2010 den Max-und-Moritz-Preis in der Kategorie Publikumspreis beim Comic-Salon in Erlangen, 2011 den Prix Révélation beim Internationalen Festival in Angoulême und 2013 den Ignatz Award als bester Graphic Novel).
Das zentrale Thema der weiblichen Figur kehrt 2017 in Lusts Autobiografie Wie ich versuchte, ein guter Mensch zu sein zurück, in der sie ihr Leben als Mutter zwischen zwei Beziehungen und den kulturellen Unterschieden zu einem nicht-europäischen Partner erzählt und erneut über die patriarchalische Kultur und die Rolle der Frau in der westlichen Gesellschaft reflektiert. Nach jahrelangen Studien und Recherchen erscheint schließlich 2025 der erste Band des Comic-Essays Die Frau als Mensch, in dem Lust die Entwicklung des Menschen in der Frühgeschichte untersucht und dabei in jeder Epoche die zentrale Rolle der Frau bei der Konstruktion sozialer Modelle hervorhebt.
Anlässlich der Veröffentlichung dieses Bandes haben wir mit Ulli Lust über ihre Karriere, ihre Werke und ihren Stil gesprochen.
Guten Tag, Ulli Lust, vielen Dank, dass Sie sich Zeit für uns genommen haben. Ich würde gerne damit beginnen, Sie zu fragen, wie Ihr Werdegang aussieht und wie Sie zum Comic gekommen sind, bis Sie schließlich beschlossen haben, ihn zu Ihrem Beruf zu machen.
Ich habe den Beruf der Comiczeichnerin erst mit dreißig Jahren entdeckt. Ich bin nach Berlin gezogen, um Illustration zu studieren, und dort habe ich den alternativen und experimentellen Comic als Ausdrucksmittel entdeckt. Während meines Studiums an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee verbrachte ich die meiste Zeit damit, Comics zu zeichnen und diese Ausdrucksform zu erforschen. Damals interessierte ich mich vor allem für alternative amerikanische Comics, französische Graphic Novels (wie die von L’Association) und die Comic-Reportagen von Joe Sacco.
Von Anfang an beschäftigten Sie sich als eine der ersten in Deutschland mit grafischem Journalismus, mit Reportagen aus deutschen Städten, wie zum Beispiel über die Plattenbausiedlung in Halle-Neustadt, aber auch mit alternativen Werken, die in verschiedenen Zeitungen veröffentlicht wurden. Woher kam Ihr Interesse für den grafischen Journalismus und was hat Sie dazu inspiriert?
Während meines Studiums schrieb ich Artikel und zeichnete Illustrationen für eine Berliner Stadtzeitung, Scheinschlag. Mein Kommilitone Kai Pfeiffer erzählte mir von Joe Sacco und einem Projekt von Art Spiegelman, der Zeichner losgeschickt hatte, um Comic-Reportagen zu erstellen. Ich fand die Möglichkeit, journalistisch mit Comics zu arbeiten, faszinierend. Wir haben unsere Professorin Nanne Meyer gebeten, ein Seminar zu diesem Thema zu geben, sie hat zugestimmt, und das Ergebnis war ein großer Erfolg. Das Seminar wurde auch in den folgenden Semestern fortgesetzt. Das Comiczeichnen habe ich durch Beobachtung und dokumentarisches Zeichnen gelernt.
2009 erlangten Sie mit „Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens“ nationale und internationale Anerkennung. Das Buch erzählt von einer Jugendreise nach Italien und behandelt Themen wie sexuelle Belästigung und Gewalt, Patriarchat und Emanzipation. Auch hier nahmen Sie eine Reihe von Themen und einen Erzählstil vorweg, die mit #MeToo explodierten und alle Medien erfassten, auch und vor allem den Comic. Ich möchte zu diesem Moment zurückkehren und Sie fragen, wie das Buch entstanden ist, welche Ideen und Überlegungen Sie damals hatten.
Nach meinem Studium suchte ich nach einem dokumentarischen Thema für eine längere Comic-Erzählung. Die Episode aus meiner Jugend schien mir Potenzial zu haben. Ich habe fünf Jahre lang an dem Buch gearbeitet. Teile der Texte stammen aus meinen alten Tagebüchern. Ein befreundeter Künstler aus Palermo hat für mich die Orte fotografiert, die im Comic vorkommen, und mir die Fotos als Vorlage geschickt. Heute lebt er in Berlin.
Der Comic ist autobiografisch und sehr persönlich, aber an einigen Stellen kommt ein journalistischer und dokumentarischer Blick zum Vorschein. Wie haben Sie diese beiden Aspekte miteinander in Einklang gebracht?
Durch meinen journalistischen Ansatz bin ich es gewohnt, mich zu fragen, welche Relevanz ein Thema hat: „Warum muss diese Geschichte gerade jetzt erzählt werden?“ Ich habe mich darin geübt, das zeitgenössische Alltagsleben zu beschreiben und zu erzählen. Man sagt immer, Journalisten müssen neugierig auf andere sein. Diese Neugierde führt dazu, dass man die Beobachtung anderer Menschen und der Welt in den Mittelpunkt der Erzählung stellt und nicht nur die eigenen Gefühle.
Wie würde die Öffentlichkeit heute reagieren, wenn Sie diese Geschichte zum ersten Mal veröffentlichen würden? Was hat sich Ihrer Meinung nach seitdem in diesen Bereichen verändert und wie viel Arbeit bleibt noch zu tun, insbesondere in Deutschland und Österreich?
Die Reaktionen auf das Buch sind seit 2009 unverändert geblieben. Es scheint ein zeitloses Thema zu sein, auch wenn die Geschichte im Jahr 1984 spielt. Heute ist die mediale Aufmerksamkeit für sexuellen Missbrauch vielleicht größer, aber im Einzelfall ist es immer noch sehr schwierig, die Scham zu verlagern. Es wird weiterhin diskutiert, ob das Opfer nicht selbst Schuld hat und ob es den Täter nicht zu Unrecht diffamiert.
Auch in Ihrem vorletzten Buch „Wie ich versuchte, ein guter Mensch zu sein“ haben Sie sich wieder mit dem gleichen Thema auseinandergesetzt, immer aus einer autobiografischen Perspektive, aber diesmal nicht nur in Bezug auf die Beziehung zwischen Mann und Frau, sondern auch zwischen verschiedenen Kulturen und Traditionen. Wie hängen dieses Werk und das vorherige zusammen? Woher kommt der Wunsch, dieses letzte Buch zu schreiben?
Der erste Comic beschreibt das Erwachen einer jungen Frau, die noch nicht genau weiß, was sie mag, und vieles ausprobiert. Ich war körperlich noch nicht bereit für große Intimität, aber da wir damals Punks waren, habe ich es zumindest versucht. Im zweiten autobiografischen Comic zeige ich hingegen eine junge Frau mit sexuellen Wünschen, die unkonventionelle Beziehungsmodelle leben will. Nicht alle Partner waren dazu bereit.
In Ihrem neuesten Werk, „Die Frau als Mensch“, das fast acht Jahre nach dem vorherigen erschienen ist, kehren Sie zu Ihren Wurzeln zurück, zu den Springpoems: Sie sprechen über die Frau in einem dokumentarischen Kontext, der in der Frühgeschichte, den Anfängen der Menschheit und der menschlichen Gemeinschaften beginnt. Dieser erste Band ist sehr dicht und detailreich, sowohl in der Zeichnung als auch in der Erzählung. Wie intensiv war die Recherchearbeit in diesem Fall?
Sehr intensiv. Jede Szene erforderte Recherchen zu vielen Details, es entstand eine Art Strudel der akademischen Forschung. Aber ich habe das Thema selbst gewählt, daher empfand ich es nicht als anstrengend oder trocken. Es fasziniert mich seit fast dreißig Jahren. Genauer gesagt seit 1997, als ich das Buch Sedna oder die Liebe zum Leben von Hans Peter Dürr, einem Ethnologen, las, das mich zu meinem ersten Springpoem inspirierte.
Woher kommt der Wunsch, die weibliche Figur durch ein dokumentarisches Werk zu erforschen, das in der Frühgeschichte beginnt, und worin liegt Ihrer Meinung nach die Stärke dieser Perspektive, die auch den Sinn der Gemeinschaft für den Menschen analysiert? Aus wie vielen Bänden wird das Werk bestehen und welchen Zeitraum soll es abdecken?
Der erste Band behandelt die Ursprünge bis vor 30.000 Jahren.
Der zweite Band befasst sich ausführlich mit der Zeit vor 30.000 Jahren und gibt einen Überblick bis zum Ende der letzten Eiszeit vor etwa 14.000 Jahren.
Ich würde gerne auch die Jungsteinzeit mit der Erfindung der Landwirtschaft und Viehzucht bis 3.500 v. Chr. behandeln. Mit etwas Glück könnte ich dann mit einem dritten Band abschließen.
Sie sind eine der wichtigsten Figuren des deutschsprachigen Comics auf internationaler Ebene, daher würde ich Sie gerne fragen, wie Sie die Entwicklung des Comics in Deutschland in den letzten dreißig Jahren sehen, was für Sie das bedeutendste Element war und wie Sie den Stand des Comics in Deutschland heute einschätzen.
Heute gibt es in Deutschland viel mehr gute Comics als noch vor zwanzig Jahren. Die Szene hat sich sehr gut entwickelt, viele Kolleg*innen werden auch im Ausland veröffentlicht. Ich freue mich, dass es viele Autorinnen gibt. Auch das hat sich gegenüber früher verändert. Wir haben ein neues Publikum gefunden, Comics gibt es jetzt auch in allgemeinen Buchhandlungen und nicht nur in Fachgeschäften. Es hat sich viel verändert, ich blicke optimistisch in die Zukunft. Glücklicherweise kann KI unsere Arbeit nicht ersetzen, denn die Menschen wollen immer noch lesen, was andere Menschen denken und fühlen.
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Interview per E-Mail im April 2025
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