Grüße aus Fukushima

Grüße aus Fukushima Foto: © Hanno Lentz - Majestic Regie: Doris Dörrie, Deutschland 2015/2016, 104 Min.
Mit Rosalie Thomass, Kaori Momoi, Nami Kamata, Moshe Cohen, Honsho Hayasaka, Nanoko, Aya Irizuki


Marie macht sich Sorgen. Sie fragt sich: „Bin ich gerade glücklich?“ und kämpft gegen Verlustängste. Noch am Tag der Hochzeit trennt sie sich von ihrem Mann, den sie mit seinem besten Freund betrogen hatte. Jetzt will sie möglichst weit weg vom Ort ihres Schmerzes und reist für die Organisation „Clowns4Help“ nach Japan, um in Fukushima den Hinterbliebenen der Katastrophe von 2011 zu helfen. Marie ist viel zu unglücklich, um andere Menschen aufheitern zu können. Ihre komödiantischen Versuche verlaufen kläglich, trotz der Hilfe des amerikanischen Clowns Moshe. Nachts rennt sie, ein Erdbeben fürchtend, panisch aus ihrem Behelfsquartiert und trifft auf einen Mönch, der stoisch seinen Sake mit ihr teilt. Marie heult: „Ich habe alles kaputtgemacht!“

Maries Flucht ans andere Ende der Welt müsste scheitern, würde sie nicht Satomi kennenlernen, eine alternde, manchmal mürrische und barsche Geisha. Sie nötigt die junge Frau aus Deutschland, sie mit einem Auto ins strahlenverseuchte Sperrgebiet zu fahren, um nach ihrem nur teilweise zerstörten Haus zu sehen. Marie will nicht lange im Sperrgebiet bleiben, fährt mit dem Auto los und kehrt umgehend wieder zu Satomi zurück: „Was würden Sie tun“, fragt die alte Geisha, „wenn Ihre ganze Welt aufgehört hätte zu existieren?“ Als Marie erfährt, dass sie mit einem von Satomi geklauten Auto ins Sperrgebiet gefahren ist, will sie erneut abreisen. Sie steht schon am Bahnhof, kehrt dann doch zurück zu der älteren Frau, die gerade dabei ist, ihr Haus von den Resten der Zerstörung zu befreien – ein fast symbolischer Vorgang; Marie sieht, wie man mit den Katastrophen der Vergangenheit zurechtkommen könnte, wenn man sich von den irreparablen Resten befreit. In der ersten Nacht müssen die beiden Frauen auf dem Boden schlafen. Von draußen hört Marie leise Musik. Am Morgen betet Satomi, serviert Tee, doch die Deutsche fragte nach Kaffee und wird für ihre Art, mit gespreizten Beinen zu sitzen, von der Japanerin kritisiert. Marie lernt, sich auf die fremde Frau, die mitunter überraschend gut Englisch spricht, einzulassen; sie schleppt Betten aus einem anderen zerstörten und verlassenen Haus zu Satomi, lässt sich in der Tee-Zeremonie unterweisen und hilft entschlossener bei den Aufräumarbeiten. Die beiden Frauen kommen sich näher und vertrauen sich gegenseitig ihre dunklen Geheimnisse und Gewissensbisse an. Marie gesteht den Betrug an ihrem Bräutigam, auf Satomi lastet eine schwerere Schuld. In der Nacht des Tsunamis war sie mit ihrer Schülerin Yuki auf einen Baum geflüchtet; jetzt ist sie fest davon überzeugt, die junge Frau ins Wasser gestoßen zu haben. Die geheimnisvolle nächtliche Musik käme von den zurückkehrenden Geistern, erklärt Satomi, und Marie ziehe sie an, weil sie selbst unglücklich sei. Nachts trifft die Deutsche auf Yukis Geist, im Haus bittet Satomi ihre tote Schülerin um Vergebung.

„Die junge Frau lernt von dieser alten Frau etwas sehr japanisches, und das ist Haltung. Haltung seinem eigenen Schmerz gegenüber. Und zugleich dreht sich die Geschichte auch um, dass diese alte Frau, die durchaus auch sehr hart ist, auch etwas von der jungen Deutschen bekommt, und das ist so etwas wie eine Aufforderung zur Regelverletzung und ein bisschen ein Aufweichen sich selbst gegenüber.“ (Doris Dörrie)

Wie eingangs Marie, so will sich nun Satomi erhängen. Die Deutsche rettet sie in letzter Minute. Gemeinsam verbringen sie eine Nacht in der Stadt, Satomi begegnet nach langer Zeit wieder ihrer Tochter. Und sie bastelt für Yuki eine Puppe, als Begleitung für ihren Weg mit den Geistern; Marie übergibt sie, Yuki verschwindet. Satomi bekommt, mit Hilfe des Mönchs, wieder eine Schülerin. Das Leben geht weiter: Marie kann in ihre alte Heimat zurückkehren.

Mit Grüsse aus Fukushima schlägt Doris Dörrie eine für sie neue Tonart an, frei von den komödiantischen Momenten früherer Filme, aber auch frei von jener Sentimentalität, die in ihrem Japan-Film Kirschblüten – Hanami angeklungen war. Seit Jahren hat es keinen deutschen Schwarzweiß-Film mehr gegeben, der so plausibel auf Farbe verzichtete und so sinnvoll mit dem Breitwand-Format umzugehen verstand. Dabei reichen die Stilmittel vom Realismus dokumentarischer Archivbilder bis hin zu den magischen nächtlichen Sequenzen, in denen Marie den Geistern aus Satomis Vergangenheit begegnet.

Hans Günther Pflaum, 02.06.2016