Hördur

Regie: Ekrem Ergün
Deutschland 2015, 80 Min.
Mit: Almila Bagriaçik, Hilmi Sözer, Felicitas Woll

Hördur Foto: © Sebastian Wunderlich

Aylin träumt. Noch ist nicht klar, ob das als Alptraum endet. Voller Unruhe scheint sie sich durch einen Wald zu bewegen, mit unbekanntem Ziel, als sie von ihrem kleinen Bruder Emre geweckt wird. Die junge Deutsch-Türkin muss sich, seit dem Tod ihrer Mutter, um den Jungen kümmern und pünktlich im Kinderladen abliefern, bevor sie selbst in die Schule geht. In der Klasse nennt man sie „Psycho“, sie wird verspottet, provoziert und schikaniert – bis der Druck so groß wird, dass sich die Siebzehnjährige handgreiflich wehrt. Wegen Körperverletzung kommt sie vor ein Jugendgericht und wird zu fünfzig Stunden Sozialarbeit verdonnert. Das Urteil gegen Aylin wird sich, auch durch die Vermittlung ihrer verständnisvollen Lehrerin, als Rettung aus der Not erweisen. Aylin muss auf einem Pferdehof arbeiten. Iris, die Leiterin des Reitstalls, hatte einst selbst von der Hilfe ihrer Lehrerin profitiert. Iris fordert und fördert ihren neuen Schützling zugleich. Anfangs zeigt Aylin wenig Begeisterung für die körperliche Arbeit, doch dann entdeckt sie Hördur; das Islandpferd gilt als schwierig und widerspenstig. Fast spielerisch und spontan entwickelt sich eine Art Freundschaft zwischen dem Mädchen und dem Tier – das entgeht auch Iris nicht. Die Chefin erteilt der Schülerin Reitunterricht, zunächst auf einem sanfteren Pferd, bis Aylin auf Hördur ausreiten darf.

Hasan, Aylins einsamer Vater, der sich und seine beiden Kinder am „Arbeiterstrich“ mit allerlei Gelegenheitsjobs finanziell über Wasser hält und sich zunehmend zornig gegen die Ausbeutung wehrt, beobachtet die Entwicklung seiner Tochter mit Misstrauen; als er feststellt, dass Aylin ihre fünfzig Stunden Sozialarbeit abgeleistet hat und dennoch regelmäßig den Reitstall besucht, beginnt er zu intervenieren. Noch heftiger reagiert Hasan auf die Nachricht, Aylin werde an einem kleinen Reitturnier teilnehmen. Er verbietet ihr das Reiten und befiehlt ihr, mit ihm und Emre in die Türkei zurückzukehren. Aylin widersetzt sich, flieht und versöhnt sich dann doch mit Hasan. Am Ende, als sie doch an dem Turnier teilnimmt, spielt es keine Rolle mehr, ob sie schneller ist als die Konkurrenz: Sie hat ein neues Selbstvertrauen gewonnen, die Achtung ihrer Schulklasse errungen und den Weg zu einer verlässlichen Identität gefunden.

Natürlich gehört Hördur – Zwischen den Welten, wie zum Beispiel auch Katja von Garniers Ostwind, ins Genre jener Pferdefhof-Filme, in denen junge Mädchen im Umgang mit den Tieren eine Art Sozialisierung erleben und einen wichtigen Schritt ins künftige Leben vollziehen. Aber Regisseur Ekrem Ergün und seine Autorin Dorothea Nölle siedeln ihre Heldin in einer anderen, sozial härteren Welt an und zielen mit Aylins Migrationshintergrund auf brandaktuelle Fragen der Integration in Deutschland. „Uns war aufgefallen, dass bei vielen Pferdefilmen die Tiefe der Figuren und die inneren Konflikte nicht deutlich genug herauskommen. Und genau das haben wir versucht, in unserem Film zu ändern. Das Pferd wird zum Katalysator zur Emanzipation unserer Hauptfigur. Sie begehrt im Lauf des Films gegen das konservative Denken ihrer türkischen Familie auf.“ (Ekrem Ergün) Kein Zufall, dass der Weg aus der Stadt zum Pferdehof über einen Fluss führt – ein Topos, der bis in die klassische Mythologie zurückreicht und mit der Überquerung oder Grenzüberschreitung die Ankunft in einer anderen Welt verspricht.

Hans Günther Pflaum