Toni Erdmann

Toni Erdmann Foto: © KomplizenFilm Regie: Maren Ade
Deutschland 2014-16, 162 Min.
Mit Peter Simonischek, Sandra Hüller, Michael Wittenborn, Thomas Loibl, Trystan Pütter, Hadewych Minis, Lucy Russell, Ingrid Bisu


Was ist aus den Alt-68ern geworden? Hatte nicht auch damals die Erziehung der Tochter auf jene selbstbewusste Eigenständigkeit abgezielt? Jetzt will Ines ganz offensichtlich nichts mehr von ihm wissen. Und ihm gelingt es kaum, mit seiner Umtriebigkeit die Vereinsamung zu bekämpfen.

Nach dem Tod seines Hundes reist Winfried spontan nach Bukarest, um Ines zu sehen; die ist darüber wenig erfreut. Sie ahnt, dass er sich in alles einmischen wird, und erschrickt, als ihr Vater erklärt, er habe sich für den Besuch vier Wochen Zeit genommen. Zurückhaltung scheint ihm fremd zu sein. Ines nimmt ihn mit zu einem Empfang in der US-Botschaft, allerdings mit der Aufforderung, auf jeden Fall abzulehnen, falls sie ihr Chef hinterher noch zu einem Drink einladen würde. Winfried scheut allerdings vor keinem blöden Scherz und keiner Peinlichkeit zurück: ein listiger Narr, der mit seinen verrückten Einfällen in Wirklichkeit die anderen zum Narren hält. Er hat auch das Zeug zum cleveren Hochstapler, gibt sich unter dem Namen Toni Erdmann, mal als deutscher Botschafter aus, als Tennispartner von Ion Tiriac, dem legendären Manager von Boris Becker, oder als erfolgreicher Geschäftsmann – dies alles mit großem Vergnügen an verwegenen Maskierungen, an einer wild strähnigen Perücke, an weit hervorstehenden Fangzähnen und am monströs haarigen Kukeri-Kostüm, das im bulgarischen Brauchtum seine Wurzeln hat.

Am schlimmsten ist für Ines, dass die Streiche ihres Vaters, die weit in die Hierarchien ihres Arbeitsplatzes hineinführen, ihrer Karriere im Weg stehen könnten, auch weil sie ihn manchmal nur für peinlich hält. Aber die Tochter ist durchaus lernfähig: Sie spannt Winfried als deutschen Geschäftsmann ein, um ein zweifelhaftes Projekt zum Outsourcing eines rumänischen Großbetriebs durchzusetzen, wenngleich ohne Erfolg. Gemeinsam besuchen die beiden die letzte Ölbohrstelle der Firma; noch ganz in seiner Rolle als deutscher Tycoon gefangen rügt Winfried einen Arbeiter wegen der Missachtung von Sicherheitsvorschriften und ist bestürzt, was er damit angerichtet hat: Der Arbeiter wird fristlos entlassen. Auf dem Heimweg wirft Ines ihrem Vater eine „grüne Gesinnung“ vor. Aber sie lernt von ihm auch, verwegen zu sein: Ihre Geburtstagsfeier, die sie in der Firma als Maßnahme der Teambildung anpreist, erklärt sie ebenso kurzfristig wie provokant zur „Nacktparty“ - sogar ihr Chef lässt sich darauf ein. Natürlich taucht auch Winfried dort auf, im Kukeri-Kostüm als riesiges Zottelmonster; der Anblick der nackten Gäste treibt ihn schnell in die Flucht. Ines rennt ihm im Bademantel hinterher, holt ihn ein, ruft „Papa!“ und wirft sich dem langhaarigen, gesichtslosen Ungeheuer in die Arme. Es ist der erste wirklich zärtliche Moment zwischen Vater und Tochter.

„Winfried versucht mit seiner spontanen und waghalsigen Verwandlung eine Auflösung der alten Vater-Tochter-Beziehung. Toni Erdmann wird aus einer Verzweiflung heraus geboren. Humor ist ja oft eine Lösung, um etwas zu überwinden, und insofern auch immer dem Schmerz abgerungen. Der Vater ist unfähig, seiner Tochter anders zu begegnen. (…) Winfried befreit sich mit Toni aus dieser Misere, indem er dieses radikale Angebot macht. Er hat nur seinen Humor als Waffe, und den beginnt er voll einzusetzen. Daraus entsteht ein härteres Spiel, und weil Ines auch ein harter Hund ist, spricht er damit plötzlich eine Sprache, die sie verstehen kann.“ (Maren Ade)

Trotz vieler Ellipsen: Die Regisseurin nimmt sich für ihre Geschichte sehr viel Zeit; dies gibt dem Film seine äußere Ruhe, das Erzählen von ständigen inneren Bewegungen profitiert davon. Am Ende steht ein Todesfall, aber nicht der zunehmend physisch gefährdete Winfried ist gestorben, sondern seine alte Mutter, die Oma von Ines. Vater und Tochter, die ihren Job in Bukarest gekündigt hat und für eine größere Firma nach Singapur gehen wird, sehen sich beim Besuch des Bestattungsunternehmens wieder. Dann treffen sich die Mitglieder der Familie – es sind, angesichts von Winfrieds Einsamkeit – überraschend viele – im Haus der Verstorbenen. Winfried und Ines schauen auf viele alte Sachen, die Oma nicht wegwerfen wollte. Ines setzt Omas altmodische Mütze auf und geht mit ihrem Vater in den Garten. Der verschwindet im Haus, um einen Fotoapparat zu holen. Die Kamera verharrt auf der jungen Frau; sie wirkt sehr nachdenklich.

Hans Günther Pflaum, 01.02.2018