Vor der Morgenröte – Stefan Zweig in Amerika

Vor der Morgenröte Foto: © XVerleih - Mathias-Bothor Regie: Maria Schrader
Österreich/Deutschland/Frankreich 2016, 106 Min.
Mit Josef Hader, Barbara Sukowa, Tómas Lemarquis, Charly Hübner, Lenn Kudrjawizki


Rio de Janeiro, im August 1936. Der vor den Nazis geflohene Stefan Zweig wird vom brasilianischen Außenminister mit einem Festbankett geehrt; er scheint den Höhepunkt seines Ruhms nicht genießen zu können. Das gigantische Blumenarrangement auf der Tafel, der ersten Einstellung des Films, erinnert insgeheim an ein prächtiges Begräbnis – ein erster Hinweis auf das tragische Ende des österreichischen Schriftstellers. Zweig, der als jüdischer Autor 1933 in Deutschland zu den Opfern der Bücherverbrennung gehörte, ist von dem Land begeistert, weil es eine Gesellschaftsform entwickelt hat, die das friedliche Zusammenleben verschiedenster Rassen und Hautfarben ermöglicht. Aber er weiß auch: „Jede Generation muss eine eigene Antwort finden!“

Zweig reist weiter zum P.E.N.-Kongress in Buenos Aires. Zu den Teilnehmern zählen berühmte Kollegen wie Georges Duhamel, Halldor Laxness, Giuseppe Ungaretti oder Filippo Tommaso Marinetti. Maria Schrader und ihr Coautor Jan Schomburg sind indes klug genug, um auf ein literarisches name dropping zu verzichten. Sie rücken ein Gruppeninterview in den Vordergrund: Journalisten aus aller Welt fragen Zweig nach Deutschland. Er verweigert sich: „Ich werde nicht gegen Deutschland sprechen, und auch gegen kein anderes Land. Der Intellektuelle soll sich seinem Werke widmen.“ Denn Widerstand ohne Risiko sei pure Geltungssucht. Gleichzeitig glaubt Zweig an ein künftiges freies und friedliches Europa. Nur: „Wir werden es nicht mehr erleben!“ In der Gegenwart sieht er Europa „eingeklemmt zwischen Faschismus und Demokratie“. Jüngste politische Entwicklungen, mit rechten Politikern wie Marine LePen, Geert Wilders, Viktor Orban oder Nigel Farage, geben diesem Film eine wachsende Aktualität, zeigen sie doch, wie fragil Zweigs mit der Europäischen Union scheinbar schon fast verwirklichte Utopie heute geworden ist. Auch das Thema „Flucht“ trägt zur Aktualität des Films bei: „Wenn man beispielsweise die Schilderungen der Flucht von Friderike Zweig liest, wie sie mit Tausenden Menschen am Quai von Marseille steht, die alle vor Krieg und Verfolgung flüchten, dann sieht man die Menschen, die heute auf der anderen Seite des Mittelmeers mit ähnlichen Motiven ihr Leben riskieren, um dieses Meer in die entgegengesetzte Richtung zu überqueren, erscheint dies in einem anderen, größeren Kontext.“ (Maria Schrader)

In einer leidenschaftlichen Rede verweist der deutsch-schweizer Schriftsteller Emil Ludwig auf die vielen Kollegen, die ihre Heimat verlassen mussten: Lion Feuchtwanger, Thomas und Heinrich Mann, Walter Benjamin, Bert Brecht, Erich Maria Remarque und viele andere. Die Aufzählung der Namen wirkt wie ein Kanon der bedeutendsten deutschen Autoren der dreißiger Jahre. Ihre Zahl wird noch wachsen. In New York, im Januar 1941, trifft Zweig seine erste Frau Friderike und klagt über die vielen Hilfsgesuche, die ihn aus Europa erreichen – selbst von Journalisten, die ihn einst gekränkt hatten. Er soll ständig mit Affidavits bürgen, die für die Erteilung eines Visums nötig sind. Offensichtlich macht er sich Sorgen um seine eigene Existenz, er kommt kaum noch zum Schreiben. Er flieht vor den Bittstellern nach Petrópolis in der Nähe von Rio. Dort vollendet er sein letztes Werk, „Die Schachnovelle“ und feiert im November 1941 mit seiner zweiten Frau Lotte und einem Freundespaar zum letzten Mal seinen Geburtstag. Im folgenden Februar finden Hausangestellte die Leichen des freiwillig aus dem Leben geschiedenen Ehepaars. Auch hier zeigt sich die Sensibilität der Regisseurin: Nur flüchtig, diskret und am Rande richtet sich die Kamera auf die beiden Toten und erzählt von der Tragödie mit dem Blick auf die anwesenden Überlebenden. Maria Schrader versucht auch gar nicht, für den Selbstmord eine einzige Antwort zu finden; es ist die Summe, die den Freitod plausibel macht – und es ist auch ihr Hauptdarsteller Josef Hader, der eine im deutschen Film seltene physische Präsenz und eine zunehmende, aber nie ausgestellte Melancholie ausstrahlt. Damit respektiert sie auch Zweigs Abschiedsbrief: „Ich grüße alle meine Freunde! Mögen Sie die Morgenröte noch sehen nach der langen Nacht! Ich, allzu Ungeduldiger, gehe ihnen voraus.“

H.G. Pflaum, 02.03.2017