Loblied der Langeweile
Wie uns Nichtstun vor Müdigkeit bewahren kann

Meditation Space
© CC flickr/ Donatas Grinius

Wir leben in einer Müdigkeitsgesellschaft, schreibt der deutsch-koreanische Philosoph Byung-Chul Han. Sieht man sich morgens in der Tokioter U-Bahn um, könnte man denken, dass er Recht hat; doch signalisiert Schlafen in der Öffentlichkeit bereits eine müde Gesellschaft? Und wie kann diese müde Gesellschaft wieder zu sich kommen?

Meine Augen brennen. Eben bin ich kurz eingeschlafen und erschrocken, als die Tür an der Haltestelle geöffnet wurde. Für fünf Sekunden war ich in meinem Altbau-Zimmer in Berlin, nun sitze ich wieder in der Tokioter U-Bahn und bin unendlich schläfrig. Müdigkeit: Das Thema drängt sich denjenigen auf, die neu in einem fremden Land sind, das Gefühl haben, unter ihrem Jetlag einzugehen und jeden Morgen in der U-Bahn von einer Dampfwalze neuer Eindrücke überrollt zu werden. Dort, in der U-Bahn, fallen auch die anderen Müden auf: Japaner schlafen im Stehen, immer wieder erschrocken aufblickend, an einen Haltegriff oder im Sitzen an den Nachbarn gelehnt, das Handy noch in der Hand. Ist dieses Ausklinken aus der öffentlichen- in die persönliche, innerliche Welt der (Tag-)Träume eine bewusste Handlung oder ein beschämender Kontrollverlust? Und vor allem: Ist es wirklich reine Müdigkeit als Folge einer zu kurzen Nacht oder nicht vielleicht auch eine Art Kontemplation, ein In-sich-kehren inmitten der Menschenmassen?

Shinagawa Station © Franziska Kekulé Falls wir es hier mit Müdigkeit zu tun haben stellt sich die Frage: Sind Japaner etwa müder als Deutsche? In der Berliner U-Bahn sieht man selten solche Szenen. Und wenn ja: Was ist das für eine Art von Müdigkeit? Ist sie dieselbe, die uns als Schüler im Unterricht überfallen hat und unter bangem Hoffen, nicht beim Zufallen der Augen ertappt zu werden, wie eine Krankheit nicht abzuschütteln war? Gleicht sie dem Abschweifen während einer zähen Rede, den Tagträumen eines Arbeiters am Fließband, der sich in Gedanken aus der einschläfernd rhythmisch-hämmernden Maschinenhalle stiehlt, der „ehrlichen“ Müdigkeit nach  einer langen Wanderung oder der Schläfrigkeit eines dumpfen Sommernachmittags im Hummel-summenden Garten? Die Müdigkeit frischer Liebe, die einen wie träge Katzen zusammengerollt im Bett verweilen lässt, oder die, die uns als Kinder in der Kirche übermannt hat und dazu führte, auf der Schulter des Vaters nach Hause getragen zu werden, um verwundert im Auto zu sich zu kommen. Diese „unschuldigen“ Müdigkeiten  aus schlichtem Schlafmangel, körperlicher Verausgabung oder Langeweile könnte man als „gesunde Müdigkeiten“ bezeichnen. Sie sind meist durch Erholung zu beseitigen und nicht zu vergleichen mit der grundsätzlichen Müdigkeit der heutigen Leistungsgesellschaft, die der deutsch-koreanische Philosoph Byung-Chul Han in seinem Buch „Müdigkeitsgesellschaft“ beschreibt. Diese ist vielmehr eine Er-schöpfung, oder ex-haustion, wie es auch im Englischen lautmalerisch heißt, um einen Bogen um das viel zu abgenutzte und darum fast inhaltsleer gewordene Wort „Burnout“ zu machen. Die Energie ist ausgeschöpft. Han geht in seiner These, die er durch Theorien zahlreicher Denker wie Friedrich Nietzsche, Peter Handke und Hannah Arendt stützt, von einer Selbstausbeutung der modernen Menschen aus, die unendlich müde macht, Energie für produktive, neue Gedanken raubt und die Gesellschaft damit nicht nur in einem Status Quo hält, sondern sogar in einen vorzivilisatorischen Zustand zurückwirft.

Wesentlicher Grund für die Müdigkeit ist nach Han ein „Übermaß an Positivität“. Diese Positivität ist allerdings nicht im eigentlichen Wortsinn, sondern als aggressiver Grundcharakterzug der modernen Welt zu verstehen. Ein Zuviel an Möglichkeiten und permanente Affirmation erschöpfen. Heute fühle sich der moderne Mensch so vielen Gruppen und Kulturen zugehörig, dass ihm die „Antikörper“ fehlen, um sich durch ausreichende Immunabwehr im Geiste gesund zu halten. Hier spricht Han die „Gewalt des Konsens“ nach Jean Baudrillard oder ein „zu viel des Gleichen“ an, was ein „Durchbrennen des Ich bei Überhitzung“, also neuronale Erkrankungen wie ADHS oder Depressionen zur Folge hätte. Hier könnte man auch den deutschen Soziologen Georg Simmel anführen, der in „Die Großstädte und das Geistesleben“ formuliert, wie wichtig für die Großstädter die Abgrenzung von der Massen ist, um ihr Individuum zu verteidigen. Wir brauchen demnach vielleicht das Gefühl, unter den Millionen irgendwie doch einzigartig zu sein, um gesund zu bleiben. Wirft man an dieser Stelle den Blick erneut auf Japan, fällt auf, dass diese Abgrenzung in der Gesellschaft konträr zum Idealbild des Aufgehens in der Gruppe steht. Hier zählt vielmehr das Gleichsein, meint man zumindest als Außenstehender wahrzunehmen.

„Yes, we can!“ -  Zuviel des Guten und der Rückfall zum Tier


Ein weiteres „Übermaß an Positivität“ innerhalb der Leistungsgesellschaft sieht Han in deren grundsätzlichem Wandel, den sie seit der Foucault‘schen Disziplinargesellschaft durchlaufen hat. Anstelle der Negativität von Befehl und Gehorsam tritt in der Leistungsgesellschaft eine freiwillige Bereitschaft zum Aufopfern, wobei der Mensch zugleich Herr und Knecht ist. Anstelle der Fabriken, in denen der Arbeitnehmer im Fabrikbesitzer einen relativ klaren Antagonisten fand, traten die freien Berufe, die eine mehr oder weniger freiwillige dauerhafte Arbeitsbereitschaft inhärent haben. So werden etwa Medienschaffende, die in permanenter Konkurrenz stehen und keine geregelten Arbeitszeiten haben, zu „animal laborans“ (vgl. Hannah Ahrens), die in vorauseilendem Gehorsam Leistungsmaximierung und Selbstausbeutung ohne Fremdzwang betreiben. Man denke an Schlagworte wie „Generation Praktikum“, „ständige Erreichbarkeit“ oder „mobiler Arbeitsplatz“ in Deutschland; in Japan gibt es sogar ein eigenes Wort für den Tod durch Überarbeitung: „Karōshi“ als Ergebnis einer halbfreiwilligen Kompletthingabe an die Firma, ein „freier Zwang“ oder eine „zwingende Freiheit“. „Die psychischen Erkrankungen der Leistungsgesellschaft sind die psychologischen Manifestationen dieser paradoxen Freiheit“, schreibt Han in „Müdigkeitsgesellschaft“. Die disziplinierte Gesellschaft der Fabriken brachte laut Foucault Verrückte und Verbrecher hervor; die selbst-disziplinierte Gesellschaft der Bürotürme und mobilen Arbeitsplätze durch andauernde Positivität Depressive und Versager, so Han. Plötzlich ist die permanente Einsatzbereitschaft, das ständige „Yes, we can!“, unterbrochen, die Depression ist demnach eine Könnens-Müdigkeit.

Meerkat Namibia © CC flickr/ Sara&Joachim&Mebe Neben einer ständigen Leistungsbereitschaft ist auch die Reizüberflutung ein Übermaß an Positivität, das Müdigkeit zur Folge hat: Eine breite, aber flache Aufmerksamkeit, wie sie durch ständige Erreichbarkeit und zahlreiche Ablenkungen im großstädtischen, technisierten Leben hervorgerufen wird, lässt uns immer mehr zum Tier werden, so Han. Multitasking ist ein Rück- und kein Fortschritt, wenn man durch eine zerstreute Aufmerksamkeit nichts mehr in Gänze erfassen kann, man denke an das überfliegende Leseverhalten im Internet. Zwar wissen die modernen Menschen von der Bandbreite her mehr, als früher, aber nichts richtig. Zivilisatorische Ideale und kulturelle Errungenschaften wie etwa Kunst und Philosophie sind aber nur durch eine kontemplative Beschäftigung mit einer Sache möglich; nur mit voller Konzentration kann man etwas voll und ganz erfassen und neue Gedanken entwickeln, statt bloß wiederzukäuen. Schweben wir aber permanent nur über den Dingen, berühren sie hier und da leicht, wie eine unruhige Libelle die Oberfläche eines Teiches, durchdringen wir nie einen Sachverhalt ganz und nichts hat mehr Gewicht. Da wir ständig von potentiellen Ablenkungen umgeben sind, gleicht unsere Aufmerksamkeit der eines Tieres in freier Wildbahn, das permanent aufpassen muss, nicht gefressen zu werden. Es kommt keine wahre Langeweile auf, und wenn, dann wird die entstehende Lücke in der permanenten Ablenkung gestopft mit Musik, Lektüre, Filmen, Surfen im Internet usw. Nun steckt aber nicht nur in Input, sondern vor allem auch in der Langeweile ein hohes kreatives Potential, da erst in dieser Phase das vom Geiste aufgenommene verwertet und in relevante Zusammenhänge gesetzt wird. Würden wir nur essen, ohne zu verdauen, würden wir verhungern. Ähnlich ergeht es dem rastlosen Geist. Bereits Walter Benjamin sprach von der Wichtigkeit der Gabe des Lauschens; eine Form, um sich kontemplativ einem Thema zuzuwenden und sich somit der hektischen Aufmerksamkeit eines Tieres entgegenzustellen. Nietzsche erwähnte einen Mangel an Ruhe, der die Gesellschaft zur Barbarei zurückführe. Sie konnten nicht ahnen, dass sich der Trend der Rastlosigkeit in der Zukunft um ein Hundertfaches potenzieren würde. Man müsse, schrieb Nietzsche, um eine hohe Kultur zu entwickeln, sehen, denken und sprechen lernen. Also in Ruhe hinsehen, über das voll und ganz gesehene nachdenken und wohlüberlegt die Gedanken formulieren. Das brauche Zeit. Unruhig auf jeden Reiz zu reagieren und sich passiv den Ablenkungen zu öffnen schafft demnach statt Kultur Erschöpfung und krankhafte Müdigkeit.

Müdigkeit gegen Müdigkeit

Peter Handke "Versuch über die Müdigkeit" ©Suhrkamp Verlag Um die Gesellschaft voranzubringen, statt kollektiv auf eine mindere Stufe zurückzufallen, müssen wir zugleich Ruhe und einen Weg aus der Müdigkeit finden. Ist also Langeweile eventuell ein solches Mittel? Denn Langeweile ist oft Quelle für Kreativität und tiefer Auseinandersetzung mit einem Thema. Wenn uns sonst langweilig ist, lesen wir ein Buch zu Ende, betrachten den Raum, in dem wir sitzen in seiner ganzen Kontingenz oder überdenken etwas noch einmal in Ruhe. „Wenn der Schlaf der Höhepunkt der körperlichen Entspannung ist, so die Langeweile der geistigen. Die Langeweile ist der Traumvogel, der das Ei der Erfahrung ausbrütet. Das Rascheln im Blätterwald vertreibt ihn“, schrieb Walter Benjamin im Essay „Der Erzähler“. Ruhe lässt uns also geistige Nahrung erst verwerten und nutzbar machen. Vielleicht wäre folglich Müdigkeit ein Ausweg aus der Müdigkeit, denn es gibt nicht nur die schädliche, krankmachende, lähmende, sondern auch eine gesunde Müdigkeit, die uns gut tut, uns sanft, gelassen und durchlässig für die Welt macht. „Gesunde Müdigkeit – Sie allein schon die Erholung“, schreibt Handke im „Versuch über die Müdigkeit“.

Eine andere Art gesunder Müdigkeit können wir durch körperliche Erschöpfung herbeiführen. Ganz nach dem richtigen Gespür gehen hunderte Japaner in Tokyo um den Kaiserpalast laufen, verausgaben sich beim Baseball oder im Judo-Training. In Berlin gibt es Wochenendausflüge, an denen Banker dafür bezahlen, im Wald Holz zu hacken oder einen Hundeschlitten zu lenken. In einer eigenen kleinen „Datsche“ Unkraut zu jäten ist plötzlich schick. Und dabei wird man nicht nur „gesund“ müde, sondern kann sich auch ganz kontemplativ auf eine Sache konzentrieren. Dem ermüdenden Zuviel an Positivität wird durch die bewusste Unterbrechung Negation entgegengesetzt. Wo die „Müdigkeit der positiven Potenz“ eine Erschöpfungsmüdigkeit darstellt, die uns handlungsunfähig macht, kann die „Müdigkeit der negativen Potenz“ als Auszeit förderlich sein. So sollten wir uns einen Tag der Müdigkeit, einen Sabbat einräumen, an dem wir befreit vom Zweck ganz ziellos sein können. Im Gegensatz zu rastloser, dummer Mechanik kann der Mensch sich diese Zwischen-Zeiten bewusst schaffen, um geistig verdauen zu können. Zahlreiche namenhafte Wissenschaftler, Intellektuelle und Philosophen wie Martin Heidegger fanden in der (Zen-) Meditation die notwendige Ruhe, um sich vor geistiger Müdigkeit zu schützen. In der Meditation befreit man sich bewusst von sich aufdrängenden Reizen; der Passivität der dauerhaften, wehrlosen Reizaufnahme wird ein aktives „Nein“ entgegengestellt.

In Japan spielt diese Art Kontemplation eine wesentlich größere Rolle, als in Deutschland, wo Meditation oft als esoterisch missverstanden und belächelt wird. Die Anhänger des Zen-(=Versenkung) Buddhismus gehen in sich, haben kein konkretes Ziel und halten inne. Oft wird gesagt, es gehe um „nichts“. Dieses „Nichts“ in Form von Stille und Leere, das mühsam erlernt werden muss, kann gegen das „Zuviel“ sehr wirksam sein. Müdigkeit ist also zum einen das lähmende Resultat einer permanenten Überreizung, zum anderen ist sie ihr eigenes Gegengift. Die schlafenden Japaner in der U-Bahn sind eventuell auf der richtigen Spur, wenn sie in sich gehen, statt sich den Menschenmassen offen und schutzlos entgegenzustellen. Sie werden zu ihrer eigenen Höhle. Kontemplation gegen krankhafte Müdigkeit. Müdigkeit gegen Müdigkeit. „Ich habe einmal gelesen, Schwermütige könnten ihre Krisen überbrücken, indem sie über Nächte am Schlafen gehindert würden. Jenes Bild hatte ich vor mir, als nun in mir die Bedrängnis der Müdigkeit Platz machte. Diese Müdigkeit hatte etwas von einem Gesundwerden. Sagte man nicht: »Mit der Müdigkeit kämpfen«? Dieser Zweikampf war zu Ende. Die Müdigkeit war jetzt mein Freund. Ich war wieder da, in der Welt, und sogar in ihrer Mitte! (Peter Handke, Versuch über die Müdigkeit)
Wie uns Nichtstun vor Müdigkeit bewahren kann © CC flickr/ Eric Kilby