Büchner-Preis für Marcel Beyer

Büchner-Preis für Marcel Beyer
©Suhrkamp Verlag

Leben ist Schreiben. Im November erhält Marcel Beyer den Georg-Büchner-Preis, die wichtigste literarische Auszeichnung in Deutschland. Noch im April war Marcel Beyer zu Gast im Goethe-Institut Tokyo. Er begeisterte das Publikum mit dem Klang seiner Stimme, seinem Wissen und vielfältigen Wortspielen.
 

„Ob Gedicht oder Roman, zeitdiagnostischer Essay oder Opernlibretto, für Marcel Beyer ist Sprache immer auch Erkundung", teilte die Akademie für Sprache und Dichtung mit. „Er widmet sich der Vergegenwärtigung deutscher Vergangenheit mit derselben präzisen Hingabe, mit der er die Welten der Tiere und Pflanzen erforscht" - heisst es weiter in der Begründung der Akademie.

Marcel Beyer, Beobachten ist Schreiben

Geboren 1965 in Tailfingen (Baden-Württemberg), wuchs Marcel Beyer in Kiel und Neuss auf. Ab 1987 studierte er Germanistik, Anglistik und Literaturwissenschaft an der Universität Siegen. 1992 absolvierte Marcel Beyer sein Magister Artium mit einer Arbeit über Friederike Mayröcker. Seit seiner Studienzeit ist er schriftstellerisch tätig. Von 1989 bis 2000 gab er gemeinsam mit Karl Riha die Reihe Vergessene Autoren der Moderne heraus. Von 1990 bis 1993 arbeitete er als Lektor der Literaturzeitschrift Konzepte. Von 1992 bis 1998 veröffentlichte er Beiträge in der Musik- und Popkulturzeitschrift Spex und entpuppte sich als ausgesprochener Musikkenner. Für sein Werk wurde Marcel Beyer vielfach ausgezeichnet. Einer breiten, auch internationalen Öffentlichkeit wurde er 1995 mit seinem Roman Flughunde bekannt. Darin erzählt er vom Zweiten Weltkrieg, von der Instrumentalisierung der Sprache durch die Propaganda. Auf virtuose Weise verknüpft er die Biografie des Stimmenforschers Hermann Karnau mit dem Schicksal der Kinder von Magda und Joseph Goebbels. Ein ganz eigener persönlicher Stil der Geschichtsschreibung kommt zum Tragen. Der Roman "Flughunde" steht somit auch repräsentativ für den Aufbruch einer Nachwendeliteratur, die Geschichtsbewusstsein, Erzählvermögen und poetologische Reflexion auf neue Weise verband.
1996 hat Marcel Beyer Dresden zu seiner Wahlheimat gemacht und seinen Blick in die Nachkriegsgeschichte Ostdeutschlands und Osteuropas erweitert. Der Roman Kaltenburg von 2008 erzählt die Biografie des Zoologen Ludwig Kaltenburg. Wiederum stellt Beyer sein spezifisches rekonstruktives Erzählverfahren unter Beweis, angewandt auf die DDR-Geschichte. Besonders erschütternd die Beschreibung des Dresdner Zoos nach der Bombardierung im Februar 1945.

In 25 Jahren schrieb Marcel Beyer vier Romane. Er gilt als Meister von Panorama und MiKroskopie. Vor allem in den Gedichten kommt sein Hang zum Detail zum Vorschein. Beyers Gedichtpublikationen, vom Debüt Walkmännin (1990) bis zu Graphit (2014), und auch seine vielfältige theoretische Auseinandersetzung mit Lyrik zeigen das vielfältige Wortmaterial, aus dem er schöpft, und wie er es zu arrangieren versteht: assoziativ, witzig, doppeldeutig, bissig.

Für Marcel Beyer gilt Beobachten = Schreiben. Vorbild und Angelpunkt seiner Bewunderung ist Friedericke Mayröcker. Ihr Werk hat seinen Blick auf die Welt und die Literatur verändert. Noch im Juli besuchte er die 92jährige Lyrikerin in Wien.

In dem Band "études" (2013) von Friederike Mayröcker stößt der Leser auf einen Eintrag vom 3.1.12, der die Freundschaft der beiden Künstler verdeutlicht: "Marcel Beyer sagt LECKER!, wir fahren durch Köln Torten essend, es ist Carnaval ich erinnere mich, denke an Robert Schumann (Carnaval) das war vor ungefähr 25 Jahren, später ging er nach Dresden, die Ästchen schon sprieszen. Er fuhr einen 2 CV, schrieb Gedichte. ..."
 
Begegnungen mit Marcel Beyer in Tokyo


Bisher wurde Marcel Beyer zweimal nach Japan eingeladen, 2001 und 2005. Im April 2016 folgte der Dichter einer erneuten Einladung des Goethe-Instuts Tokyo. Es fanden zwei Begegnungen Marcel Beyers mit japanischen Studenten, Theaterleuten, Musikern, Komponisten und Übersetzern statt. In einem Workshop über Marcel Beyers Roman "Kaltenburg" erlebten die Teilnehmer den Dichter als besonderen Kenner deutscher Geschichte. Mit einer überwältigend klangvollen Stimme trug er Gedichte vor, die im Zusammenhang mit dem Roman standen. Das anschließende Gespräch tangierte verschiedene Themen, zum Beispiel das Verhältnis zwischen Prosa, Lyrik und Essay, die Grenzen der Kommunikation zwischen Tier- und Menschenwelt. Vor allem prangerte Marcel Beyer die offizielle Geschichtsschreibung als falsche Erinnerung an und markierte sein Interesse an prekären historischen Situationen, sogenannten Umbruchszeiten. Sicher bietet die gegenwärtige entfesselte Zeit dem Dichter genügend Erzählstoff.

Die zweite Begegnung Marcel Beyers mit einem begeisterten Publikum fokussierte seine in 12 Jahren angewachsene Gedichtsammlung "Graphit". Marcel Beyer trat mit seiner Lebenspartnerin, Jacqueline Merz, auf. Die multimediale Lesung brachte Zuschauern und Zuhörern die Erfahrung des Zusammenspiels von Sprache, Klang und Bild näher. Zeichnungen von Jacqueline Merz und Kompositionen von Anno Schreier begleiteten Marcel Beyers Vorlesung der Gedichte aus dem Zyklus Graphit, der die 200 Seiten umfassende Gedichtsammlung eröffnet. Im Gespräch erläuterte er die interessante Entstehungsgeschichte seiner mit mehrdeutigen Anspielungen bestückten Gedichte. Auch philosophische Gedanken zu Grenzsituationen kamen zum Zug, denn die Lesung fand am Gedenktag der dreifachen Katastrophe in Japan statt. Die Katastrophe des ersten Weltkriegs wurde mit der Dreifachkatastrophe in Japan verglichen. Marcel Beyer wies auf die Ambivalenz von Sinnlosigkeit und möglichem universalen Sinn in der Katastrophe.
Der Zyklus Die Maus aus dem Gedichtband Graphit zeugt von der souveränen sprachmächtigen Behandlung des Themas:

Im Auge einer Maus zieht sich
die Welt zusammen. Und
diese Maus - ihr Fell um
einige Graustufen heller als
 
erwartet, dass es fast schmerzt -
sie hält dich fest im Blick.
Ein Fell wie Sand,
wenn er durchleuchtet wird.
 
Wohl erst nach Sonnenuntergang
wechselt es seine Farbe,
wird Zigarettenasche, dann
Graphit, ...
 
Musils Nachlaß zu Lebzeiten (1935) enthält die Kurzgeschichte Die Maus, die zu Zeiten des Ersten Weltkrieges spielt und deren Urform sich in seinem Tagebuch aus 1918 findet. Ein Jahrhundert nach dem Ersten Weltkrieg erinnert Beyers Die Maus an seine Grausamkeit. Das Auge der Maus taucht über den zeitlichen Abstand hinweg auf und lässt Vergangenheit und Gegenwart miteinander verschmelzen.
Das Auge der Maus ist das Auge des Dichters. Nach den Veranstaltungen im April scheint eines klar:
Marcel Beyer ist einer unserer sprachmächtigsten Dichter, geschult an Friedericke Mayröcker und Thomas Kling.

Wird es sein letzter Besuch in Tokyo sein?

Unwahrscheinlich, denn das nächste gemeinsame Projekt ist in Vorbereitung. Der japanische Komponist Toshio Hosokawa und Marcel Beyer arbeiten im Auftrag der Oper Stuttgart an einer neuen Oper. Ausgehend von Kleists Erdbeben in Chili komponiert Toshio Hosokawa die Musik, Marcel Beyer schreibt das Libretto. Die Uraufführung der Oper soll 2018 in Stuttgart stattfinden.