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Studentenproteste in den 1960ern
Was passierte an der Universität Tokyo?

Kanda_Quartier_latin
Kanda_Quartier_latin

In den 1960er Jahren erreichten Protestbewegungen die größte Popularität in der japanischen Nachkriegsgeschichte. Vor allem die Studentenbewegung verzeichnete einen großen Zulauf. In den späten 1960er Jahren wurden die Gelände der Universitäten zur Bühne der Protestbewegungen im ganzen Land: zunächst für Proteste gegen den Vietnamkrieg und später für Demonstrationen gegen die  geplanten Revisionen des US-japanischen Sicherheitsvertrags 1970. Die Elite-Universität Tokyo bildete hier keine Ausnahme.

1968 wurde an 34 Prozent (bzw. 127 Universitäten) der achtsemestrigen Universitäten in Japan gestreikt, zum Boykott aufgerufen oder die Gebäude wurden verbarrikadiert. 1969 steigerte sich diese Zahl  auf 41 Prozent (bzw. 153 Universitäten) und sie sollte noch weiter zunehmen.   

Universitätsinterne Probleme, für die sich die Studenten in den Protesten engagierten, waren u.a. eine Selbstverwaltung der Universitätseinrichtungen, eine Erweiterung der Rechte der Studierenden sowie eine Ablehnung der Erhöhung der Studiengebühren. Zudem kritisierten die Studenten die Verstaatlichung der unversitären Verwaltungsorgane, Wirtschaftskooperationen der Universtitäten und Kooperationen im Zuge des Vietnamkrieges. Die Bewegungen an der Universität Tokyo und der Nihon Universität waren hier besonders einflussreich. Sie zeichneten sich durch eine lange Zeitspanne, eine große Teilnehmerzahl, einen hohen Einfluss auf andere Universitäten und eine starke Präsenz in den Medien aus.
 

Der Beginn des Protests

Die ersten organisierten Studentenbewegungen im modernen Japan begannen 1918 an der Universität Tokyo. In diesem Jahr wurde der Studentendachverband „Shinjin Kai“ an der Tokyo Imperial University (später: Universität Tokyo) gegründet. Der „Shinjin Kai“ fungierte als Initiator landesweiter Studentenverbände. Darum bildete die Universität Tokyo von diesem Moment an bis zum Ende der 1960er Jahre die ideelle und organisatorische Leitung der japanischen Studentenbewegung, wobei ihr großer Einfluss in ihrem Status als „Ausbildungsstätte der Elite“ begründet war.

Und eben dort, im Zentrum der Studentenbewegung, streikten im Herbst 1968 alle zehn Fakultäten - was war passiert?

Anlass für die Proteste an der Unversität Tokyo war die Forderung der Abschaffung des „Praktikumssystems“, das Medizinstudenten seit Ende der 1940er Jahre landesweit absolvierten mussten.
Das Praktikumssystem verpflichtete Studenten nach dem Absolvieren der medizinischen Fakultät zu einem unbezahlten Training ohne Weiterqualifizierung. Das System ermöglichte einen Einsatz von „Praktikanten“, um den anhaltenden Arbeitskräftemangel im medizinischen Bereich auszugleichen.

Im Januar 1968 traten darum alle Jahrgänge der Medizinischen Fakultät der Universität Tokyo in Streik. Dieser Streik führte zu Uni-Verweisen und zur Exmatrikulation von Rädelsführern. 17 Studenten, von denen viele dem Protest gar nicht beigewohnt hatten, wurden bestraft und vier von ihnen exmatrikuliert. 

Weil die Medizinische Fakultät sich nicht auf Verhandlungen mit den Studenten einlassen wollte, besetzen die Medizinstudenten am 15. Juni 1968 das Yasuda Auditorium auf dem Hongo Campus, um mehr Aufmerksamkeit auf die Missstände zu lenken.

Zwei Tage nach Beginn der Besetzung, am 17. Juni 1968, forderte die Universitätsleitung die Bereitschaftspolizei an, um die Barrikaden aufzulösen. Dieses Vorgehen, die Polizei zur Lösung von universitären Problemen zu nutzen, sahen die Studenten als eine gewaltsame Verletzung der Autonomie der Universität an. Auch außerhalb der medizinischen Fakultät wurde der Einsatz der Bereitschaftspolizei verurteilt und die Studentenbewegung erhielt weiteren Zulauf. Allerorts verlangten Stundeten eine Entschuldigung für diesen drastischen Schritt und eine Aussetzung der Bestrafung der Studenten.
An der Universität Tokyo selbst weiteten sich die Protestaktivitäten in Form von Versammlungen und Diskussionsrunden auf alle Fakultäten und auch auf die Graduiertenschule aus. Am 26. Juni 1968 schließlich traten die Studenten der geisteswissenschaftlichen Fakultät in fristlosen Streik.  Von den Sommerferien bis Anfang Oktober weitete sich dieser Streik dann auf alle zehn Fakultäten aus.  
 


Revolution der Elite

An der juristischen Fakultät dauerte der Streik mit etwa 1,5 Monaten am kürzesten und an der Geisteswissenschaftlichen Fakultät  mit knapp 1,5 Jahren, bis Ende 1969, am längsten. Während des Streiks boykottierten die Studenten Vorlesungen, Forschungsaktivitäten, errichteten Barrikaden auf dem Campus und bereiteten in diesen Barrikaden ihre Protestaktionen vor.

Mit ihren Aktionen vertieften die Studenten das Problembewusstsein ihrer Kommilitonen und führten Diskussionen mit den Fakultätsmitgliedern, die nicht bereit waren auf die Forderungen der Studenten einzugehen. Derart entstand weit über die  medizinische Fakultät hinaus ein Konsens über die Bedeutung der Hinterfragung des universitären Systems. Die Universität Tokyo war noch immer die „Schule der Elite“, die die nächsten Generationen ausbilden, neue Technologien  entwickeln sollte und Studenten einen hohen gesellschaftlichen Status in Aussicht stellte.  Doch nun hinterfragten die Studenten diesen Status, fragten, ob sie nicht nur ein Rädchen im Getriebe seien, um das universitäre System in Gang zu halten. Mit Slogans wie „Daigaku Kaitai“ („Zerlegt die Universitäten!“) und „Jigohitei“ („Legt euren Status ab!“) suchten sie nach alternativen Wegen für ihr Studium und ihre Forschungen.

Zugleich hatten die Studenten auch Verbindungen zu Protesten außerhalb der Universität. Im Zuge ihres Streiks gingen viele von ihnen zu Demonstrationen und Kundgebungen linker Parteien, die den Vietnamkrieg, den Sicherheitsvertrag von 1970 und die Rückgabe Okinawas thematisierten.

Dennoch endeten die Proteste an der Universität Tokyo letztlich mit einer „Niederlage“.  Viele Studenten  - selbst die linksradikalen Mitglieder der Kommunistischen Partei Japans (KPJ)   - sorgten sich um die Länge der Streiks und begannen im Spätherbst 1968 mit der Auflösung der Barrikaden. So endeten die Demonstrationen ohne dass die Forderungen der Studenten erfüllt wurden.  Nach einem Kampf mit der Bereitschaftspolizei wurden am 18. und 19. Januar 1969 alle Barrikaden aufgelöst, einschließlich des berühmt berüchtigten Yasuda Auditoriums auf dem Hongo Campus.

 
Das Erbe der Studentenproteste

Nach allgemeinem Verständnis endeten die Studentenproteste in Japan zu diesem Zeitpunkt. Die letzten Aufsässigen, die das Yasuda Auditorium mit Helmen, Stangen und Molotowcocktails besetzt hielten, wurden von der Bereitschaftspolizei mit Wasserwerfern und Tränengas übermannt. Fernsehaufnahmen und Dokumentarfilme verankerten den Moment als das Scheitern der Bewegung im öffentlichen Gedächtnis und verknüpften das Ende der Besetzung des Yasuda Auditoriums mit dem Ende der Studentenbewegung der 1960er Jahre.

Für einige Studenten der Universität Tokyo ging die Hinterfragung ihres eigenen Status und ihrer Rolle im universitären Betrieb jedoch auch noch nach Protestende weiter. Eine Umfrage, die ich mit damaligen Protestteilnehmern gemacht habe, ergab, dass sie auch nach den Protesten aktive Selbsthinterfragungen betrieben und in ihren Augen der Einsatz der Bereitschaftspolizei dafür verantwortlich war, dass die Ziele der Protestbewegung nicht erreicht worden waren. Ein Forscher, der Aussicht auf eine glänzende Zukunft hatte, gab seine Karriere beispielsweise auf, veröffentlichte stattdessen Arbeiten zu „Alternativen Praktiken für Wissensvermittlung“ und hielt Lesungen um sie einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Andere sahen sich nach dem Verlassen der Universität erneut mit ähnlichen Fragen konfrontiert, etwa mit der  Verteilung von Entscheidungsbefugnissen bei der Gründung einer Firma oder Diskussionen zum Lehrpersonal bei den eigenen Kindern. Wieder andere führten ihr soziales Engagement in gemeinnützigen Vereinen weiter und setzen sich für unter anderem für den Umweltschutz, eine Reform der Medizinischen Einrichtungen, ein unabhängiges Leben von Menschen mit Behinderungen und die Emanzipation von Frauen und Minderheiten ein.

Aufgrund der angespannten Beziehung dieser Teilnehmer zur kommunistischen Partei führten die Aktionen der damaligen Protesteilnehmer (anders als in Deutschland) nicht zur Bildung einer neuen Linken im Parlament. Sicher ist jedoch, dass den Protestbewegungen an der Universität Tokyo Graswurzelbewegungen entwachsen sind, die auch heute noch die gesellschaftlichen Machtverhältnisse und sozialen Normen in Frage stellen.

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