Enzio Wetzel
Leiter, Goethe-Institut Villa Kamogawa
Einleitung

Die Villa Kamogawa feiert ihr 10-jähriges Jubiläum. Von 2011 bis 2021 haben 118 der insgesamt 130 Kulturschaffenden in einem der vier Appartements der Villa gewohnt. Während der zehn Jahre hatte die Villa insgesamt vier Leiter – Andreas Schiekofer, der die Villa umgebaut und eingerichtet hat, dann Marcus Hernig, Markus Wernhard und nun mich. Ein seit zehn Jahren nahezu unverändertes Team von japanischen Mitarbeiter*innen hat die Bewohner*innen begleitet, ihre Projekte unterstützt, gedolmetscht, vermittelt.

»Kunst lebt, wo Künstler*innen leben« ist das Motto der Villa, aber nun, im Jahre ihres Jubiläums, ist die Villa verwaist. Für Japan begann die Pandemie mit der »Diamond Princess«, die im Hafen von Yokohama festsaß, aber rascher, als wir es erwartet haben, schlossen sich die Grenzen auch für Künstler*innen aus Deutschland. Bis jetzt weiß noch niemand, wann der reguläre Betrieb wieder aufgenommen werden kann.

Zuerst haben wir den früheren Stipendiat*innen Postkarten nach Deutschland geschickt, schöne Ansichten von Kyoto: Wie man unter Kirschbäumen am Fluss wandelt oder wo – nach der Kirschblüte – die rosa Blüten im Wasser des Wehrs schwimmen. Wir haben uns überlegt, ob wir unsere notgedrungen online geschalteten Programme »Online Kamogawa« oder ehrlicherweise »Offline Kamogawa« nennen sollten. Schließlich haben wir den Stipendiat*innen, die eigentlich an der Reihe waren und nun schon ein Jahr zugewartet hatten, Kultur-Carepakete geschickt: Bücher, grünen Tee und Kekse, Fächer, Stoffe, Kalligrafien, damit sie zumindest einen analogen Hauch, eine Ahnung von Kyoto bekämen. Etwas schicken kann man noch, reisen kann man nicht mehr. Objekte kommen durch, Subjekte nicht.

So entstand die Idee zu einer Einladung der Objekte, die man anschauen oder erleben kann, die von den künstlerischen Prozessen, der Stimmung und der Arbeitsatmosphäre in der Villa Kamogawa berichten. Alle Stipendiat*innen wurden angefragt, nicht etwa ein Kunstwerk, sondern ein Verbindungsstück aus/von/über/an Kyoto zu schicken, in einem gelben Standardpaket der Deutschen Post, Größe M. Über 90 haben geantwortet, 82 haben schließlich etwas geschickt und eine Geschichte dazu geschrieben. Daraus besteht nun die Ausstellung つなぐモノ語り Tsunagu Mono Gatari, übersetzt Verbindungsstücke, oder auch Geschichten, die verbinden.

Die Ausstellung hat folgerichtig eine digitale und eine analoge Ausprägung. Zuerst wurden die Fundstücke genau 10 Jahre nach Eröffnung der Villa Kamogawa durch Bundespräsident Christian Wulff in den originalen Appartements, in denen der Autor/die Autorin des Objekts gewohnt hatten, arrangiert und in einem virtuellen Rundgang online zugänglich gemacht. Dann schickten wir die Objekte wieder zurück nach Deutschland, wo sie nun anlässlich der Veranstaltung der Villa Kamogawa in Berlin im CLB Berlin – Collaboratorium im Aufbau Haus am Moritzplatz ausgestellt werden. Zuletzt kommen sie vertragsgemäß zurück zum Absender.

In Berlin liegen die Fundstücke nun absichtlich-zufällig beieinander, ohne ihren originären Hintergrund, die Villa. Wir schlagen vor, die Objekte so unvoreingenommen, sondierend, forschend und sortierend wahrzunehmen, wie etwa eine Archäologin, wenn sie einen vorgeschichtlichen Siedlungshügel ergräbt: Küchengeräte liegen neben Kultgegenständen, Bruchstücke und gut erhaltene Meisterwerke, Sinnloses und Brauchbares, alles ist zu finden. Wir, die Ausstellungsmacher*innen, sind zuversichtlich, dass sich Assoziationen, Bezüge und Verbindungen bei sorgfältiger Betrachtung einstellen.

Der Katalog orientiert sich an dieser ethnologisch-archäologischen Nüchternheit:
73 Karteikarten, eine zu jedem Verbindungsstück, mit Foto und Fundort, Titel, Text und Autor*in. Der »Fundort« bezieht sich auf das jeweilige Apartment, in dem der Künstler bzw. die Künstlerin in der Villa gewohnt hat, sie tragen den Namen der vier Jahreszeiten:
Ribaasu von TienMin Liao

Dazu tritt das vorliegende Werkheft. Wir haben dazu sechs Partner, treue Begleiter der Stipendiat*innen, gefragt, ob sie etwas zu den zehn Jahren schreiben wollen, und vier aus Deutschland gebeten, etwas zu den Objekten zu schreiben. Vielen Dank für die Geburtstagsgrüße!



 

Japanische Übersetzung: Kazuko Kurahara