Lilian Peter an Yui Tanizaki
Berlin, 19. August 2020

Briefwechsel - Lilian Peter an Yui Tanizaki 2

Liebe Yui,
 
Dein Brief erreichte mich letzten Donnerstag am frühen Abend, ich saß am Schreibtisch und hatte ein nasses Handtuch um den Hals gewickelt, es ist momentan sehr heiß und sehr trocken hier, das dritte Jahr in Folge, in dem es viel zu wenig regnet; mein Nachbar, der wie ich im vierten Stock wohnt, gießt die Platane, die vor dem Haus steht, deshalb alle paar Tage mit einem Schlauch, den er von seinem Badezimmer auf den Balkon gelegt hat. Als er das das erste Mal tat, war es schon dunkel, ich konnte ihn nicht sehen, hörte aber ein Geräusch, das nach Regen klang; also trat ich auf den Balkon und blickte mich irritiert um. Wie klein konnte eine Wolke sein, dass sie nur eine Fläche von vielleicht zwei Metern beregnete? Trotz der Unwahrscheinlichkeit war ich umstandslos gewillt, an Regen zu glauben, der ausgerechnet über genau dem Baum niederging, der vor dem Haus steht, in dem ich wohne, und nirgends sonst.
 
Ich möchte Dich soviel fragen zu dem, was Du schreibst, aber ich bin schüchtern, ich will höflich sein. In Japan bin ich, glaube ich, dauernd in Fettnäpfchen getreten, ohne es zu wissen oder zu merken. Wenn man in einen Laden geht, sagen die Verkäuferinnen dort fast immer ein bestimmtes Wort, das am Ende oft ganz lang gedehnt wird. In meinen Ohren klang es etwa wie: „...shimasseeeeee“. Hält man sich länger in einem fremden Land auf, ist es so erhebend, wenn man meint, sich endlich ein ganz kleines Bisschen als „Insider“ fühlen zu können! Ganz selbstbewusst fing ich nach ein paar Wochen an, wann immer ich in einen Laden ging, dieses Wort zu sagen. In den ganzen drei Monaten meines Aufenhaltes kam ich nicht ein einziges Mal auf die Idee, jemanden zu fragen, was es eigentlich heißt. Auf dem Rückflug sah ich „Shoplifters“ auf Japanisch mit englischen Untertiteln; in einer Szene kam genau dieses Wort vor, das ich immer benutzt hatte. Es wurde mit „Welcome!“ übersetzt. Später fragte ich eine Mitarbeiterin des Goethe-Instituts, um welches japanische Wort es sich wohl handeln könnte, sie schrieb mir, ich meinte wahrscheinlich „Irasshaimase“ – いらっしゃいませ –, „Willkommen“, „Kommen Sie gern rein“. Das hatte ich also drei Monate lang zur Begrüßung in jedem Laden gesagt, in den ich gegangen war! Nie hat eine Verkäuferin auch nur eine Miene verzogen.
 
Du sprichst davon, dass die Tatsache des umgehenden Übersetztwerdens etwas anstellt mit Deinem Briefschreiben selbst; das geht auch mir so, man schickt Worte oder Zeichen auf die Reise, die sich unterwegs möglicherweise – oder sogar sicher? – verwandeln, andere werden, wir entlassen sie in die Eigenständigkeit wie kleine Lebewesen, die unterwegs Begegnungen machen, die für ihr Weiterleben entscheidend sind, bei denen wir aber nicht dabei sind. Es ist seltsam, kein Gefühl dafür zu haben, mit welchen Gesten sie Deine Räume betreten. Als ich Deinen übersetzten Brief das erste Mal las, kamen Deine Worte für mich zunächst von ganz weit her und waren mir nur schwer fühlbar, was vielleicht mit daran lag, dass es eine im Deutschen noch unkorrigierte Version war; aber ich kenne ja auch Dein Japanisch nicht, ich weiß nicht, wie es klingt, wenn Du auf Japanisch schreibst, gesprochen und auch Emails geschrieben haben wir ja bisher immer auf Englisch. Es ist merkwürdig, dass Du – oder die Übersetzung Deines Briefes – das Wort „Glasscheibe“ benutzt, ein mir sehr vertrautes Wort, das ich auch benutze, wenn sich ein Bezug in erstaunlicher Weise verschiebt. Inzwischen habe ich Deinen Brief, über fünf oder sechs Tage verteilt, immer wieder gelesen; vielleicht hatten Deine Worte einfach noch ein bisschen Jetlag, als sie auf Deutsch meine Wohnung betraten. Inzwischen jedenfalls scheinen sie mir ausgeruht. Sie gehen von selbst in die Küche und nehmen sich etwas zu essen oder zu trinken, was sicherlich ein gutes Zeichen ist; die Glasscheibe zwischen ihnen und mir hat sich verflüchtigt.
 
Worüber ich immer wieder nachdenken musste, ist etwas, was Du ganz beiläufig erwähnst, nämlich dass ein Baby jeden Tag etwas Neues lernt, dass es sich nachts daran erinnert – und dann weint. Warum ist es so, dass erst die Erinnerung an das Neue eine Art Schreck auszulösen scheint, nicht aber das Neue im Moment der Begegnung (falls ich Dich richtig verstanden habe)? Ist es ein Schreck über das Neue, oder ein Schreck darüber, dass es so etwas Merkwürdiges gibt wie Erinnerung? Und wie tröstest Du Dein Kind angesichts dieser beunruhigenden Erfahrung? Wie ist überhaupt für Dich, als Schriftstellerin in Japan, das Leben mit Baby, dazu noch in dieser merkwürdig abgeriegelten Pandemie-Zeit?
 
Die akkurat gepflegten Pflanzen in den Hauseingängen in Kyoto kann ich mir gut vorstellen; komischerweise sind sie mir nie besonders aufgefallen. Die Ordnungsliebe gehört insgesamt zu den Dingen, die mich in Japan am meisten beeindruckt haben, aber ich konnte auch spüren, wie restriktiv sie sein kann. Ordnungsliebe kann wahrscheinlich auch in Ordnungsmacht oder sogar -gewalt umschlagen. Wenn man darauf beharrt, dass permanent alles beschnitten werden soll, was wächst, werden die Dinge traurig. Der Urwald auf Deinem Balkon treibt in meiner Phantasie wilde Blüten, zwischen denen ich mich gerne verstecken würde. Auf meinem Balkon sieht es inzwischen leider eher verdorrt und karg aus: Die Tomaten wollen in diesem Jahr nicht werden, was ich für sie vorgesehen hatte. Die wenigen Früchte hängen halb verfault an den Pflanzen, jemand erzählte mir, das bedeute, dass sie nicht richtig befruchtet worden seien. Vielleicht sollte ich es nachlesen und recherchieren, aber aus irgendeinem Grund möchte ich nicht. Die fauligen Früchte habe ich bislang nicht entfernt, ich bin widerwillig. Muss man denn immer alles essen und verdauen können, was man sieht? Muss man denn immer alles gleich entfernen, was man nicht essen und verdauen kann? Vielleicht hat auch (oder sogar gerade?) das sogenannte Verdorbene etwas zu erzählen.
 
Liebe Yui, ich grüße Dich ins vermutlich tropisch heiße Kyoto und freue mich schon wieder sehr auf Deine nächsten Zeilen! (Zeilen: Stimmt das überhaupt? Müsste man für das Japanische nicht eher sagen „Säulen“? Oder „Stelen“? Wie drückt man auf Japanisch den Fluss der Zeichen aus, der ja nicht horizontal verläuft, sondern vertikal?)
 
Deine Lilian


 

Japanische Übersetzung: Miho Matsunaga