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Körperlichkeit
Über prekäre Körper

Eglė Budvytytė. Choreography for the Running Male
Eglė Budvytytė. Choreography for the Running Male. Performance in public space, 19th Biennale of Sydney, 2014 | Foto (Auschnitt): Sebastian Kriete

Von Artūras Tereškinas

Prekarität ist überall, sagte der französische Soziologe Pierre Bourdieu 1997 im Zusammenhang mit den sozioökonomischen Bedingungen und ihren Auswirkungen auf das psychische Wohlbefinden des Menschen. Für ihn sind diese Auswirkungen Gefühle der Unsicherheit und Instabilität, die in den neoliberalen kapitalistischen Gesellschaften ein völlig neues Ausmaß erreicht haben. Während sich der Wohlfahrtsstaat zurückzieht und seine Dienstleistungen privatisiert, nimmt die Lebensunsicherheit immer mehr zu. Wir alle treiben in einem globalen und permanenten Zustand der Ungewissheit und Unsicherheit dahin. Aber Prekarität ist nicht nur ein sozioökonomisches Phänomen, sie dringt auch in unser Gefühlsleben ein und wird zur vorherrschenden Emotion unserer Zeit.

Prekarität gehört außerdem zu den allgemeinen Merkmalen des verkörperten Lebens. Sie beeinflusst, wie wir unseren Körper gerade wahrnehmen und erleben. In einem Umfeld, in dem das Gefühl von Unsicherheit und Instabilität alles erfasst, werden auch die Körper prekär, verletzlich oder, um mit der Philosophin Judith Butler zu sprechen, »sozial ekstatisch«. Wir sind deshalb dazu aufgerufen, über die Beziehung von Körpern zu allumfassender Instabilität, sozialer Ungleichheit und persönlicher Verwundbarkeit nachzudenken. Prekäre Körper erinnern uns nicht nur fortwährend an die Unsicherheit und Hoffnungslosigkeit, die uns verfolgt, sondern auch daran, dass Prekarität uns alle betrifft, auch wenn die Körper von Migranten, Flüchtlingen, LGBTQ+ und Menschen mit Behinderung stärker davon betroffen sind.

Warum werden Körper prekär? Als Hauptgründe gelten schlechte wirtschaftliche Lebensbedingungen, materielle Entbehrungen, kapitalistische Ausbeutung, Krieg und Wegwerfbarkeit (benutzt und leicht weggeworfen). Sind Körper dem in den Gesellschaften ungleich verteilten Gefühl der Nutzlosigkeit und Disponibilität in starkem Maße ausgesetzt, führt dies zu ihrer sozialen Abwertung.

Manche werden infolge sozialer Normen, so insbesondere der vorherrschenden Geschlechter- und Sexualnormativitätsregime, zu einem prekären Körper. Diese Normative definieren unsere Körper als verständlich oder unverständlich, entzifferbar oder nicht zu entziffern. Prekarität wird sehr häufig mit nicht-normativen Geschlechtsäußerungen und dissidenter Sexualität in Verbindung gebracht, wie sie sowohl im Alltag als auch in der Kunst in Erscheinung treten.

Meine eigenen Körpererfahrungen als älterer homosexueller Mann sind ein guter Indikator für die Funktionsweise dieser sexuellen Normativitätsregime, nach denen mein Körper ein Einmalkleidungsstück, ein Wegwerfobjekt, eine Emotion ist, die man schnell vergisst. Mein Körper ist ein immerwährender Störfaktor in Bezug auf die etablierten Vorstellungen und Praktiken von Geschlecht und Sexualität. Seine Sexualität, sein Begehren, seine sexuellen Konfrontationen, seine Frustration wirken als alternative, in Zonen sexuellen Widerstands gezwängte Lebenszeit.

Wenn ich meinen Körper im Spiegel betrachte, weiß ich, dass er im Zentrum heutiger politischer Konflikte steht, sowohl auf nationaler als auch auf globaler Ebene. Politische und religiöse Fundamentalismen aller Art sind geradezu besessen von nicht-normativen Körpern und Körperlichkeit; Fundamentalisten befassen sich pausenlos mit den Fleischeslüsten, dem Alter des Körpers, der Notwendigkeit, ihn zu bedecken und zu verstecken, den Möglichkeiten des Körpers »gut« oder »böse« zu sein. Das Ziel dieser Fundamentalismen besteht darin, den prekären Körper vor unseren Blicken zu verbergen, ihn seiner Entscheidungsfreiheit zu berauben und ihn in ein Schlachtfeld politischer Kämpfe zu verwandeln, auf dem nicht wir den Sieg davontragen, sondern die Kräfte, die uns beherrschen, gleich ob Staat, Religion oder die Politiker, die unsere Körper einzig und allein als Gefäße für unterschiedliche Interessen sehen.

Aber ich möchte einen Körper haben, der nicht nur Gefäß für die Interessen anderer, Wegwerfkleidungsstück oder soziales Ärgernis ist. Ich möchte einen Körper haben, der gesehen, erkannt und anerkannt wird. Leider leben wir in einem sozialen Umfeld, in dem prekäre Körper wie der meine meist weder gesehen noch erkannt, oder wenn, dann in falscher Weise erkannt werden. Unsere Körper nicht zu erkennen wirkt als Form der Unterdrückung, die uns in großem Umfang Schmerzen und Traumata zufügt. Infolgedessen fällt es mir und anderen wie mir immer schwerer, einen Körper zu haben, der nicht durch stark eingeschränkte Formen der Normativität eingeengt und »verurteilt« wird. Manchmal kommt es uns so vor, als könnten wir den eigenen Körper gar nicht erleben, weil er unrechtmäßig, unecht und ungerechtfertigt sei. Wir werden das Gefühl nicht los, dass wir gar nie einen Körper hatten, der von Bedeutung gewesen wäre. Die gesamte körperliche Biografie ist damit nur eine Ansammlung ungenutzter Gesten, unausgesprochener Sätze, ständiger Unterbrechungen, Pausen und Atempausen sowie Handlungen, für die wir uns nicht entschieden haben.

Zugleich bin ich mir bewusst, dass der Körper mit Judith Butler immer auch Sterblichkeit und Verletzlichkeit impliziert. Er kann nicht nur Objekt intimer Berührungen und Blicke, sondern auch von Gewalt sein. Diese ist als Bedrohung allgegenwärtig, ob man nun Frau oder Mann, Erwachsener oder Kind, hetero- oder homosexuell, ein gesunder Körper oder einer mit Behinderung ist. Die Gewalt ist stets zum Angriff bereit, schon der kleinste Funken reicht. Nach dem Philosophen Brian Massumi darf man sie jedoch nicht auf direkte körperliche Gewalt reduzieren. Für ihn ist Gewalt nicht nur Handlung, sondern auch die Möglichkeit zum Handeln. Die Gewalt ist selbst dann lebendig, wenn sie nicht vollständig umgesetzt wird.

Prekäre Körper sehen sich nicht nur mit physischer, sondern auch mit symbolischer Gewalt konfrontiert, die die Körper der einen Menschen pathologisiert, indem sie die anderen privilegiert, die die einen zu unreinen Ausgestoßenen und anderezu gewaltausübenden und missbrauchenden Maschinen macht. Aber symbolische Gewalt ist ebenso materiell wie die Körper der Ausgestoßenen, auf die sie abzielt.
                            
Diese Gewalt soll gewährleisten, dass wir gefügig und still bleiben, in Starre und Depression verharren. Eine Geschichte ohne Ende: gefügige Körper, in Angst vor der Gewalt erstarrt, umgeben von der sanften Hülle der unerschütterlichen Ordnung des neokolonialistischen Raubtierkapitalismus. Angst vor allem: vor Arbeitern, vor Leidenschaft, vor Verbrechen, vor Flüchtlingen, vor nicht-heterosexuellem Sex, vor Protest, vor Widerstand, vor Revolution, vor Krankheit, vor Berührungen durch Fremde, die an ungehindert fließendes Blut erinnern.

Die symbolische Gewalt stützt soziale Hierarchien und soziale Ungleichheiten, weil wir sie schlichtweg nicht erkennen. Gewalt macht uns verwundbar, obwohl wir uns unserer Verwundbarkeit, die durch die ständige Gewaltandrohung aufrechterhalten wird, nicht immer in genügendem Maße bewusst sind. Lauren Berlant vertritt die Ansicht, dass unsere Körper diese Verwundbarkeit oft in Form von Verzweiflung, Elend, Stagnation, Wut, Vertrauensverlust, Erschöpfung und radikaler Selbstverausgabung spüren.  

Diese Ausführungen zur Gewalt beschreiben eines der wesentlichen Merkmale des prekären Körpers: die Verletzlichkeit, d. h. Offenheit des Körpers, auf andere einzuwirken und von ihnen beeinflusst zu werden. Mein prekärer Körper ist offen für Verletzungen und Wunden, von denen die der sozialen Ungerechtigkeit und der Nicht-Anerkennung am schmerzhaftesten sind. Physische und symbolische Gewalt richtet sich oft gegen mich, den Körper eines älteren homosexuellen Mannes. Deshalb werden mein Körper und diejenigen anderer sexueller Dissidenten oft als widerwärtig und pervers dargestellt.

Als Folge dieser Art der Darstellung sehen sich unsere verletzlichen Körper oft mit Grausamkeit konfrontiert, die wie die Gewalt im Kontakt mit uns – den Unberührbaren, Unterbewerteten, Verachteten – zutage tritt. Grausamkeit bleibt sehr leicht an solchen Körpern haften. Grausamkeit ist der physische und emotionale Zustand der Nötigung, der in diesen Körpern das Gefühl von Unsicherheit und Ungewissheit hervorruft. Es handelt sich dabei um den Versuch einer stärkeren Person oder sozialen Gruppe, einem Körper absichtlich physischen oder emotionalen Schmerz zuzufügen. Dabei besteht die heutige Grausamkeit oft weniger in Folter, Inhaftierung oder Tötung, sondern vielmehr in alltäglichem Mobbing, Herabsetzung und Verächtlichmachung.

Andererseits verleiht uns die gegen unsere prekären Körper gerichtete Grausamkeit die Kraft zum hartnäckigen Widerstand gegen soziale Normen und normative Körperontologien. Sie spornt uns dazu an, zwischen verschiedenen sozialen Normen zu lavieren, um als echt, menschlich und wertvoll anerkannt zu werden. Unsere Körper sind zwar verletzlich und verwundet, aber Verletzlichkeit legt die für Sozialbeziehungen erforderliche gegenseitige Abhängigkeit der Körper offen. So kann Verletzlichkeit auch als etwas Positives gesehen werden. Als Interdependenz stellt sie eine Voraussetzung für die Existenz von Liebe, Sehnsucht, Fürsorge und Hoffnung dar. Ohne diese gegenseitige Abhängigkeit könnten unsere Körper die gesellschaftlichen Normensysteme, die uns unterdrücken, nötigen und zum Schweigen bringen, nicht infrage stellen. Ohne sie spürten wir keinen Impuls zum Kampf für Veränderung der Normen, die unsere Körper klassifizieren. Nur durch Umgestaltung von Normen beweisen unsere prekären Körper, dass sie keine statischen Fakten, sondern wirklichkeitsverändernde Prozesse sind.

Obwohl wir nicht aufhören, für das Recht auf unseren Körper zu kämpfen, gehört er nicht uns allein. Körper haben stets eine öffentliche Dimension; als soziale Phänomene in der öffentlichen Sphäre sind unsere prekären Körper zugleich unsere und auch nicht. Sie gehören uns nicht mehr, wenn wir damit öffentliche Räume einnehmen (wie die Mitglieder von »Femen« und »Pussy Riot«), Lärm machen, gegen soziale und politische Umstände protestieren, die vor Unsicherheit und Instabilität strotzen. Auf diese Weise verwandeln wir unsere öffentlichen Körper in eine Petition, ein Manifest, eine Gehorsamsverweigerung.

Wozu prekäre, verletzliche, nicht den Normen entsprechende Körper für anarchistischen Protest zur Schau stellen? Um uns von Neuem vorzustellen, wie wir leben, unseren Körper in Raum und Zeit orientieren, Beziehungen eingehen und beenden, verantwortlich und anderen verbunden, wie wir enttäuscht sein können, ohne die Hoffnung zu verlieren. Ziel der körperlichen Proteste ist es, fromme Zyniker in Aufregung zu versetzen, Süßholz raspelnde Demagogen zu entlarven und doppelzüngige Moralisten bloßzustellen.

Auf Formen körperlichen Protestes trifft man in überraschenden und unerwarteten Zusammenhängen. Ein Beispiel ist Lady Gagas Aufruf, für eine Weile »gaga« zu sein, d.h. die gewohnten und selbstverständlichen Annahmen zu Körper, Menschen, Widerstand, Wünschen und Hoffnungen loszulassen. »Ich werde die Nacht heiraten, / Ich werde mein Leben nicht aufgeben. / Ich bin eine Kriegerkönigin, / lebe leidenschaftlich heute Nacht ...«, singt sie in »Marry the Night« (2011). Denn prekäre Körper haben keine andere Wahl.
 

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