Europa
„Jetzt oder nie“ – Hoffnung der Europawahlen liegt auf den jungen Leuten

Jetzt oder nie - Europafahnen
© Colourbox

Diesen Mai finden die neunten Wahlen zum Europäischen Parlament statt. Seit dem Beginn der Europawahlen ist die Wähleraktivität stetig gesunken, besonders unter den jungen Menschen. Warum entscheiden sich die Jugendlichen, nicht zu wählen? Wie kann man sie motivieren, diese Möglichkeit wahrzunehmen?

Von Filips Lastovskis

Die Schülerin Samanta Ratniece der Sekundarschule Engure im Bezirk Tukums ist dieses Jahr 18 geworden – diese Wahl zum Europäischen Parlament (EP) wird die erste, bei der die junge Dame aus Kurzeme zur Wahlurne schreiten kann. Sie hat beschlossen, diese Möglichkeit wahrzunehmen.
 
Sie ist eine derer, wegen denen der Sprecher und Generaldirektor Kommunikation des EP Jaume Duch Guillot dieses Jahr beim Besuch in Riga sagte, die Wahlbeteiligung müsse steigen: „Jetzt oder nie“, fügte er hinzu. Die Daten zur Wahlbeteiligung erklären Guillots fast schon dramatische Worte – seit den ersten Wahlen 1979 haben die Europäer achtmal gewählt. Die Wähleraktivität ging dabei jedes Mal weiter zurück. Zudem war die Wahlbeteiligung bei den letzten Wahlen außerordentlich niedrig: 13 % in der Slowakei und 18 % in Tschechien.
 
In den meisten Mitgliedstaaten war die Wahlbeteiligung gerade unter den jungen Leuten am geringsten. Insgesamt nahmen 43 % der Wahlberechtigten in der Europäischen Union an den Wahlen 2014 teil, aber in der Altersgruppe bis 24 Jahren gaben nur 28 % der Wähler ihre Stimme ab. In Lettland wählten in dieser Altersgruppe 17 %, am schlimmsten war die Situation jedoch in der Slowakei, wo nur 6 % diese Aufgabe als wichtig empfanden. Wenn die Wahlbeteiligung dieses Mal nicht besser ist, ist es nach Guillots Ansicht schwer vorstellbar, was noch geschehen muss, um dies zu erreichen.

Was muss geschehen?

Samanta, die sich das Parlament als riesigen, mit Politikern überfüllten Saal vorstellt, erfuhr letztes Jahr von dieser Wahl, als sie an einem von einem Europaabgeordneten organisierten Wettbewerb teilnahm. Sie bewarb sich um die Möglichkeit, nach Brüssel zu fahren. „Vor dem Wettbewerb wusste ich nicht vom EP. Die Lehrer erwähnten es manchmal, aber man kann nicht sagen, das sei ein aktuelles Thema für Jugendliche. Ob sich das ändern könnte? Schwer vorstellbar in nächster Zeit“, sagt sie und erklärt, dass sie selbst teilnehmen wird, weil sie der Ansicht ist, dass man so zur Verbesserung des Lebensstandards in Lettland beitragen kann. Die Kandidaten hat sie noch nicht gesichtet, doch das stehe auf der Aufgabenliste – mit besonderem Augenmerk darauf, wer wenigstens ein bisschen auch das Thema Bildung erwähnt.
 
Auch im Büro des EP in Riga sind Wettbewerbe eine der Maßnahmen, mit denen die Aufmerksamkeit der Schüler erregt werden soll. Büroleiterin Marta Rībele merkt an, das Büro habe eine enge Zusammenarbeit mit Schulen entwickelt.
 
„Guillot sagt, jetzt oder nie. Eigentlich ist es auch so. Gerade nach dem Brexit hat man deutlich gesehen, was geschieht, wenn man seine Möglichkeit zu wählen nicht wahrnimmt. Wenn man sich einmal zwei unserer langfristigsten Projekte ansieht, haben wir einerseits das Teilhabeprogramm für Jugendliche „Wähle Du“ und andererseits die Botschafterschule des EP. Die Aktivitäten dieser Projekte gehen in drei Richtungen: für die aktivsten Jugendlichen werden Diskussionsrunden über die EU organisiert, für einen weiteren Kreis Wahl-Generalproben, bei denen die Schüler über die verschiedensten Themen abstimmen, und als Drittes versuchen wir, sie in praktische Aktionen einzubinden wie das Verschönern ihrer Umgebung. Eine Gruppe von Jugendlichen aus Sēlija beispielsweise schlug vor, eine alte Molkerei zu bemalen. Das war eine praktische Möglichkeit, die Welt um sich herum zu verändern“, erzählt Rībele.
 
„Mit der Initiative Botschafterschule haben wir versucht, tiefer in den Bildungsprozess selbst vorzudringen. Zusammen mit dem Ministerium für Bildung und Wissenschaft haben wir eine Kooperation mit 70 Schulen. Es finden Seminare in Riga und Brüssel statt. Jugendliche fahren nach Straßburg und feiern den Europatag. Das ist eine riesige Ressource – wir können offene Expertenstunden veranstalten und die Schüler selbst einbinden. In Līvāni zum Beispiel haben die Schüler handschriftlich festgehalten, warum Wahlen ihrer Ansicht nach wichtig sind. Das wurde ein großer Stapel. Den zeigen wir anderen Schulen, verteilen ihn an die anderen. Diese aktive Diskussion findet vielerorts statt, das ist fantastisch“, beschreibt Rībele das bislang Erreichte.

Mehr zuhören

Auch Annija ist 18 Jahre alt, und auch für sie wird dies die erste Wahlerfahrung. Doch im Unterschied zu Samanta aus Engure lernt sich nicht an einer klassischen Schule, sondern an der weiterführenden Fernschule Riga, somit trifft sie ihre Mitschüler und Lehrer im Alltag nicht persönlich. Ihrer Ansicht nach hätte dies jedoch nichts an ihrem Wissen über das EP an sich und die Wahlen geändert. Ihre Erklärung für die niedrige Wahlbeteiligung: „Die Jugendlichen, besonders zwischen 17 und 18 Jahren, werden von den Erwachsenen oft nicht ernst genommen, deswegen entsteht auch das Gefühl, dass es weniger Pflichten gibt.“ Ihre Empfehlung – im Vorwahlzeitraum noch aktiver die Schulen einbinden und genau dort die Diskussion über die Bedeutung von Wahlen fördern.
 
Obwohl sie selbst beschlossen hat, an der Wahl teilzunehmen, setzt sie keine große Hoffnung in eine höhere Wahlbeteiligung unter ihren Altersgenossen. „Diese Zahl ist äußerst niedrig – wenn es wenigstens über 20 % wären, wäre das schon besser“, kommentiert sie die Wahlbeteiligung der Jugendlichen bei der letzten Europawahl in Lettland. Sie hat von den Wettbewerben und Veranstaltungen, die das EP organisiert, nicht gehört; ihre Informationen bekommt sie aus den Medien und aus Gesprächen mit den Gleichaltrigen der Nichtregierungsorganisation, in der sie aktiv ist.
 
„Zu Beginn (mit 17, Anm. d. Verf.) hatte ich nicht vor, zu wählen, weil ich nicht ausreichend informiert war. Ich hatte eine ablehnende Haltung. Meine persönliche Erfahrung zeigt, dass Jugendliche nicht richtig beachtet werden. Ihre Meinung wird nicht angehört. Selbst dann, wenn man schon 18 ist. Auch von außen erkennt man, dass die Letten relativ wenig wählen gehen, sie nehmen einfach nicht teil. Dann überlegte ich, was unter solchen Umständen meine Stimme bringen würde. Mit der Zeit verstand ich jedoch, dass es auch eine bürgerliche Pflicht ist“, sagt Annija und erklärt, dass sie für die Kandidaten stimmen wird, die sich für Wohlstand und Gleichberechtigung der Menschen einsetzen. „Dafür, dass der gegenseitige Respekt unabhängig vom Alter, Geschlecht und der Staatsangehörigkeit ist“, erläutert sie.
 
Die Hauptstimme des EP, Guillot, hofft, dass sich noch eine viel größere Gruppe ähnlich denkender Menschen zu Samanta und Annija gesellt. In Riga betonte er wiederholt, dass dies die wichtigsten Europawahlen dieser 40 Jahre werden. „Darüber besteht kein Zweifel. Die Rolle des Parlaments ist viel bedeutender geworden, außerdem sehen wir seit 2014, dass die Wahlen zum EP direkt mit der Besetzung der Europäischen Kommission zusammenhängen, das war früher nicht so. Drittens ist erkennbar, dass auch Regierungschefs wie Salvini, Macron und Orbán im Gegensatz zu vorigen Malen aktiv über die Wahlen sprechen. Das gab es so noch nie“, resümierte er.

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