Die Emotionsfalle im Journalismus
„Gefühlte Wirklichkeit“

Facebook-Likes
Quelle: Pixabay; CC0 Creative Commons

Journalistische Berichterstattung will Emotionen ansprechen und verstellt damit oft den Blick auf die Fakten. Doch Journalisten/innen können auch ihre Reflexionsprozesse bei der Recherche sichtbar machen und so zur Reflexion ermuntern.
 

Von Diemut Roether

Wahlabende sind Stunden der sichtbaren Emotion in der Politik: Freude und lauter Jubel bei den einen, versteinerte Gesichter, Enttäuschung, manchmal gar Tränen bei den anderen. Die Fernseh-Berichterstattung verwendet an solchen Abenden viel Zeit auf die Beschreibung dieser Gefühle. Es werden Fragen gestellt, die eher an die von Sportreportern erinnern: „Wie geschockt sind Sie?“ – „Woran hat es gelegen?“ – „Ist das glimpflich, furchtbar, katastrophal?“ Der Fernsehjournalismus, der Journalismus überhaupt, das zeigt sich nicht nur an solchen Wahlabenden, sucht in der Politikberichterstattung nach Gefühlen, Stimmungen.
 
Diese Art, Komplexität zu reduzieren, dieser Versuch, komplizierte politische Vorgänge in Emotionen aufzulösen, begegnet uns immer wieder. Mein Eindruck ist: Je mehr Medien berichten, desto mehr tappen sie in diese Emotionsfalle. Denn es ist leichter und geht vor allem schneller, über Emotionen zu berichten, schnelle Emotionen zu wecken, als die Hintergründe zu recherchieren. Der ehemalige Chefredakteur des Nachrichtenmagazins Der Spiegel Georg Mascolo hat einmal gesagt: „Wer wenig weiß, muss viel meinen.“ Ich würde ergänzen: Je weniger Journalisten wissen, je weniger sie eine Situation einschätzen können, desto mehr versuchen sie, Gefühle zu transportieren.

Fakten verlieren an Bedeutung 

Der schnelle gefühlsbetonte Reflex passt in unsere Zeit. Wir liken das, was unsere Freunde auf Facebook posten. Wir posten fröhliche oder traurige Smileys. Wir lieben süße Katzenbilder. Wir werden von Informationen auf allen Kanälen überflutet – und reagieren mit schnellen Affekten: Mag ich, mag ich nicht. Daumen hoch oder weg damit.
 
Die kleinen tragbaren Geräte, auf denen wir Nachrichten nutzen, verstärken das. Wir nutzen sie sowohl für die private Kommunikation als auch zur Aufnahme von Informationen. Wir nutzen sie, wenn wir auf die U-Bahn oder den Zug warten. Wir surfen, wir scrollen, wir scannen. Wir suchen den schnellen emotionalen Kick. Man braucht Zeit und Konzentration, um einen langen, reflektierenden Artikel zu lesen. Diese Zeit haben wir meist nicht in den kurzen Zwischenzeiten, in denen wir uns mit dem Smartphone auf der Suche nach schneller Aufheiterung die Zeit vertreiben.
 
Wir leben in einer Zeit, in der Gefühle an Bedeutung gewinnen und Fakten an Bedeutung verlieren. Das Wort „postfaktisch“ ist von der Gesellschaft für Deutsche Sprache zum Wort des Jahres 2016 gewählt worden. „Postfaktisch“ gilt als angemessene deutsche Übersetzung des englischen Begriffs „post-truth“, der im angelsächsischen Sprachraum schon länger kursiert. Bereits 2004 veröffentlichte der amerikanische Autor Ralph Keyes das Buch The Post-Truth Era.
 
Einer derjenigen, die den Begriff im deutschsprachigen Raum in der öffentlichen Debatte etablierten, war der Physiker und Philosoph Eduard Kaeser. Er schrieb im August 2016 in der Neuen Zürcher Zeitung vom „postfaktischen Zeitalter“, das er so charakterisierte: „An die Stelle des Faktums tritt das Faktoid: die Bewirtschaftung von Launen.“
 
Was damit gemeint ist, lässt sich gut mit einem Zitat des Berliner Spitzenkandidaten der Partei Alternative für Deutschland, Georg Pazderski, illustrieren, der sagte: „Es geht nicht nur um die reine Statistik, sondern es geht da drum, wie das der Bürger empfindet. Das, was man fühlt, ist auch Realität.“ Das war seine Reaktion, als man ihm vorhielt, mittels der Kriminalitätsstatistik lasse sich kein signifikanter Anstieg der Ausländerkriminalität nachweisen.

Emotionen wirken sofort 

Mit dieser gefühlten Realität versucht nicht nur die AfD Politik zu machen. Die gefühlte Realität ist ein Nährboden für Verschwörungstheoretiker und für Rattenfänger aller Couleur. Gefühle haben es oft leichter als Fakten, weil sie nicht beweispflichtig sind, weil sie Unmittelbarkeit vortäuschen und wahrhaftig erscheinen. Wer gegen eine gefühlte Realität argumentiert, hat es schwer, denn Argumente müssen begriffen und in Beziehung gesetzt werden, während Emotionen sofort wirken.
 
Diese gefühlte Realität beherrscht die Sozialen Netzwerke. Auf Plattformen wie Facebook stellen Einzelne und Gruppen ihre eigenen Erzählungen gegen den etablierten Journalismus. Gerüchte werden aneinandergereiht, Ressentiments zu Verschwörungstheorien verknüpft, die dort ihre Fans finden: „Endlich sagt einer, was ich fühle, denke, fürchte.“ Die Empirie zählt in diesen Foren nichts, an ihre Stelle tritt die gefühlte Wirklichkeit.
 
Für Journalisten sind diese Sozialen Netzwerke eine verführerische Quelle. Sie denken, sie könnten dort „dem Volk aufs Maul schauen“ und herausfinden, was es fühlt und denkt. „So reagiert das Netz“-Artikel sind zum neuen Standard im Online-Journalismus geworden. Sie haben aber nicht mehr Aussagekraft als eine Straßenumfrage im Fernsehen. Sie sind unterhaltsames Beiwerk, Infotainment.
 
Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen schrieb 2016 in der Zeit, im Internet konkurrierten Trash und seriöse News „in direkter Unmittelbarkeit auf den Plattformen des Universums“. Es regiere das „Prinzip der Popularität. Wir liefern, was gefällt.“ 

„Du sollst nicht langweilen“ 

Die Möglichkeiten der Nutzungsanalysen, die das Netz bietet, erlauben es Redaktionen, gewissermaßen in Echtzeit zu verfolgen, wie ihre Beiträge angenommen werden. Daher schreiben Online-Redaktionen so viele Artikel zu denselben Themen. Die Erregung muss bedient werden, daher wird dieselbe Information eben noch einmal ein bisschen anders aufbereitet. Und wenn ein Artikel im Internet „nicht funktioniert“, wird er eben noch einmal umgeschrieben.
 
Journalistinnen und Journalisten lernen früh, dass es wichtig ist, beim Publikum Emotionen zu wecken. Die Leserinnen und Leser zu packen, in die Story hineinzuziehen, damit sie den Artikel zu Ende lesen oder den Beitrag zu Ende schauen. Du sollst nicht langweilen, lautet das oberste Gebot. Gefährlich wird es, wenn die Emotion zum Selbstzweck wird, wenn sie die Information ersetzt und die Recherche. Das Netz quillt über von Geschichten, die auf die schnelle Emotion zielen, auf Gefühligkeit, die aber kein Nachdenken auslösen.
 
Wenn wir Journalistinnen und Journalisten auf der Welle des Gefühls surfen wollen, dürfen wir uns nicht wundern, wenn sie irgendwann über uns hinwegschwappt. Wir dürfen uns nicht wundern, wenn all diese Emotionskicks, die wir ständig zu erzeugen versuchen, sich irgendwann gegen uns richten. Es sind die Geister, die wir riefen.

Komplexität sexy machen 

„Lügenpresse“ ist auch so ein emotionaler, „postfaktischer“ Begriff, der neben vielem anderen Frust ausdrückt. Frust darüber, dass die Welt nicht so einfach ist, wie manche sie gerne hätten. Frust über falsche Versprechungen, über Illusionen, die geweckt wurden. Frust, weil der Artikel wieder einmal nicht hielt, was die Überschrift versprach? Weil wir ein Gefühl erzeugt haben, aber den Nutzer damit allein lassen, weil wir ihn nicht anregen, weiterzudenken? Weil wir vielleicht selbst nicht weitergedacht haben?
 
Recherche und Reflexion fallen im journalistischen Alltagsgeschäft viel zu oft hinten runter. In den knapp besetzten Redaktionen geht es häufig nur noch darum, Masse zu produzieren. Der Verein Netzwerk Recherche fordert nicht umsonst, Recherche müsse für Redaktionen und Medienunternehmen wieder selbstverständlich sein und „sinnvoll in den Arbeitsalltag integriert werden“. Recherche ist Handwerk, schreibt das Netzwerk: „So wie ein Fliesenleger Fliesen legt, muss ein Journalist recherchieren.“
 
Als junge Journalistin habe ich in der Ausbildung gelernt, meine Aufgabe sei es, Komplexität zu reduzieren. Aber wenn man den Menschen immerzu erzählt, die Dinge wären ganz einfach, glauben sie es irgendwann auch. Dann wollen sie sich nicht mehr mit komplexen Themen beschäftigen. Die Aufgabe des Journalismus ist heutzutage eher, Komplexität sexy zu machen. Zu vermitteln, dass Komplexität nichts ist, wovor man Angst haben sollte, sondern dass sie zum Leben gehört.
 
Wenn ich recherchiere, verändern die Erkenntnisse meine Einschätzung und auch meine Gefühle den Sachverhalten gegenüber. An diesen Reflexionsprozessen sollten wir das Publikum teilhaben lassen und es einladen, ebenfalls zu reflektieren. Das Publikum ernst zu nehmen heißt, ihm nicht vorzugaukeln, dass es absolute Sicherheit oder einfache Lösungen gäbe. Ernstnehmen heißt, klar zu machen, dass wir mit Ängsten leben müssen, wenn wir uns die Freiheit erhalten wollen. Ernstnehmen heißt, Reflexe nicht einfach zu bedienen, sondern lieber zur Reflexion einzuladen.
 

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