Tanz
Choreografie als Protestform

Die weltweite Flashmobbewegung „One Billion Rising“ protestiert gegen Gewalt an Frauen, wie hier im Februar 2018 im niederländischen Tilburg.
Die weltweite Flashmobbewegung „One Billion Rising“ protestiert gegen Gewalt an Frauen, wie hier im Februar 2018 im niederländischen Tilburg. | Foto (Zuschnitt): © Romy Arroyo Fernandez/picture alliance/NurPhoto/

Politisch motivierte Flashmobs und Performances reagieren mit populären und zeitgenössischen Tanzformen auf aktuelle Fragen der Gesellschaft. Ist es zum Beispiel möglich, mit dem Körper Antworten auf Unterdrückung zu geben? Die Theater- und Tanzwissenschaftlerin Susanne Foellmer erklärt, wie eine solche Art von Protest öffentlich Wirkung zeigen kann.

Frau Foellmer, Sie beschäftigen sich mit dem Thema „Choreografie als Medium von Protest“. Ein bekanntes Beispiel für politischen Protest ist die Aktion „Standing Man“ – auf Türkisch Duran Adam – des türkischen Tänzers und Choreografen Erdem Gündüz in Istanbul. Was ist das Besondere daran?

Erdem Gündüz’ „Standing Man“ war ursprünglich eine Reaktion auf das Versammlungsverbot, das nach den Protesten im Istanbuler Gezi-Park 2013 verhängt wurde. Gündüz stand lediglich da, hatte den Blick auf das Atatürk Denkmal gerichtet und ging nicht weg. Andere folgten später seinem Beispiel und stellten sich neben ihn. Schnell ging die Aktion auf Social Media viral. Vielleicht war es im Ausdruck keine extreme, auf jeden Fall war es aber eine sehr widerständige Aktion, auf welche die Polizei nicht zu reagieren wusste. Denn offensichtlich ist es nicht verboten, allein auf einem Platz zu stehen. In diesem Sinn war es eine subtile Aktion, die das Versammlungs- und Demonstrationsverbot unterwandert hat. Dass es auf einer medialen Ebene dann plötzlich anfing große Kreise zu ziehen, dass es multimedial geteilt wurde, dass es Wiederholungseffekte gab, und zu einer politischen Aktion wurde, lag ursprünglich nicht in der Macht des „Standing Man“.
Stehen als Protestform: Der „Standing Man“ vom Gezi-Park, Tänzer und Choreograph Erdem Gündüz. Stehen als Protestform: Der „Standing Man“ vom Gezi-Park, Tänzer und Choreograph Erdem Gündüz. | Foto: © Vassil Donev/picture alliance/dpa Meist wird mit Protest eine „lautere“ Ausdrucksform assoziiert. Sind Stillstand oder langsame Bewegungen denn überhaupt schon Tanz?

Die Idee, dass Stehen auch schon Tanz sein kann, hat unter anderem Steve Paxton, eines der Mitglieder des Judson Church Theater in New York, in den 1960er-Jahren formuliert. Er nannte das „Small Dance“. Small Dance deshalb, weil man eigentlich nicht komplett stillsteht, denn der Körper muss die Balance halten. Irgendein Körperteil bewegt sich also immer, wenn auch unmerklich. Ein Beispiel dafür ist die Performance „Constructing Resilience“, die der in Berlin lebende israelische Choreograf Ehud Darash im Sommer 2011 in Tel Aviv veranstaltete. Der Anlass waren Proteste gegen Immobilienpreiserhöhungen. Darash nahm zusammen mit anderen Tänzern an diesen Protesten teil, allerdings setzten sie einen Gegenpunkt zu den Vorwärtsbewegungen der Demonstrationen, indem sie sich in die Menge stellten und langsam in sich zusammensackten. Ein ähnliches Beispiel gab es auch schon in den 1980er-Jahren, in einer Zeit sozialer Unruhen und Proteste, als die britische Choreografin Rosemary Lee in New York sogenannte „Melt Down“ Performances aufführte, um unter anderem gegen die Verdrängung von Künstlern aus dem Stadtraum zu protestieren. Die Performer trafen sich an öffentlichen Plätzen, reckten die Arme gen Himmel und begannen langsam in sich zusammenzusinken, also quasi zu schmelzen. Man kann hier tatsächlich von einer künstlerischen Taktik sprechen, die zu einer politischen wird.
 
Beim Flashmob hingegen wird oft mit viel Bewegung getanzt. Welche Rolle spielen Tanz und Choreographie hier für den Protest?

Beim Flashmob ist Choreografie erst einmal ganz klassisch ein Präskript, eine Vor-Schrift. User können sich auf YouTube ein Video anschauen und den Tanz lernen. So bereiten sich zum Beispiel die Teilnehmer vor, die beim jährlich zum Valentinstag stattfindenden Flashmob „One Billion Rising“ mitmachen, bei dem Frauen weltweit gegen Gewalt protestieren. Danach wird der Protest dann mit dem eigenen Körper auf die Straße getragen, einem Körper, der sich der gesellschaftlichen Problematik aussetzt. Ähnlich war es auch beim Prostest im Gezi-Park. Interessant ist, wenn die Choreografie nach dem Flashmob den Weg zurück ins Netz macht und der Tanz dort weiterverbreitet wird. Die Frage ist für mich: Wie wird Bewegung benutzt, um zu protestieren, und wie wird Choreografie – was ja „Schreiben von Bewegung“ bedeutet – genutzt, um den öffentlichen Raum für einen Moment umzuschreiben? Außerdem ist spannend, wie zum Beispiel Ordnungsmächte re-choreografieren, indem sie die Proteste einschränken, indem sie versuchen sie wegzuwischen, oder indem sie Bewegung im Internet durch die Zensur von Webseiten verbieten. Choreografie hat damit zu tun, wie Macht ausgeübt wird, aber auch, wie Macht für einen Moment ausgesetzt oder unterwandert werden kann. 
 
Glauben Sie an die Idee der sogenannten Facebook-Revolution, die besagt, dass Aufstände im Arabischen Frühling erst durch die massive Mobilisierung in den sozialen Medien möglich wurde?

Ich denke, dass hier genauer hingeschaut werden muss. Grundsätzlich lässt sich nicht behaupten, dass ein Protest nur aufgrund neuer Informationswege effektiv ist. Es gab ja auch in Zeiten analoger Medien wirkungsvolle Proteste. Kommunikationsmöglichkeiten etwa über Facebook oder Twitter sind gerade dort einflussreich, wo der Zugang zu öffentlichen Medien stark kontrolliert ist. Mittlerweile sind in autokratischen Regimen aber selbst die Sozialen Medien oft schon unter staatlicher Kontrolle. Häufig ermöglichen sie es sogar, Aktivisten aufzuspüren. Insofern haben Soziale Medien auch eine Kehrseite. Die Frage ist immer, wie die Machtverhältnisse in diesen Medien gestaltet sind.

Theater- und Tanzwissenschaftlerin Susanne Foellmer Theater- und Tanzwissenschaftlerin Susanne Foellmer | Foto (Zuschnitt): © Studio Menarc

susanne foellmer

Susanne Foellmer forscht im Bereich Tanzwissenschaft an der Coventry University, Centre for Dance Research (C-DaRE) in Großbritannien. Sie arbeitete zusammen mit Kollegen aus den Fachbereichen Kommunikationswissenschaft und Soziologie der Freien Universität Berlin an einem interdisziplinären Forschungsprojekt über Medienpraktiken in sozialen Bewegungen, und forscht nun in England zu Choreographie als Medium von Protest.