Deutsches Literaturarchiv Marbach
„Aus den Archiven heraus die Literaturforschung stärken“

Auch der Bildnachlass Erich Kästners gehört zum Bestand des Deutschen Literaturarchivs in Marbach.
Auch der Bildnachlass Erich Kästners gehört zum Bestand des Deutschen Literaturarchivs in Marbach. | Foto (Zuschnitt): © picture alliance/dpa

Wie kann ein Literaturarchiv der Zukunft aussehen? Geht es nach der Leiterin des größten und wichtigsten deutschen Literaturarchivs, Sandra Richter, wird das Deutsche Literaturarchiv Marbach bald digitaler – und wird so neue Möglichkeiten für die Literaturforschung eröffnen.

Das Deutsche Literaturarchiv (DLA) Marbach ist so etwas wie das Gedächtnis der neueren deutschen Literatur und gilt als das wichtigste und größte Archiv in diesem Bereich. Hier liegen Nachlässe von Schriftstellern wie Kafka, Schiller oder Tucholsky. Die Literaturprofessorin und Leiterin des DLA, Sandra Richter, möchte nun die Mammutaufgabe angehen, die Bestände des DLA zu digitalisieren – und damit neue Impulse für die Literaturforschung geben.
 
Frau Richter, fast jeder Germanistik- oder Literaturstudent kommt im Laufe seiner Forschungen mit dem Deutschen Literaturarchiv (DLA) in Marbach in Berührung. Sie sind studierte Germanistin und lehren und forschen als Literaturprofessorin in Stuttgart. Können Sie sich noch an Ihren ersten Besuch im DLA erinnern? 
 
Oh ja, ich fühlte mich damals wie ein Elefant im Porzellanladen. 
 
Wieso das?
 
Ich forschte zu einem Schriftsteller und Philosophen des 19. Jahrhunderts, Friedrich Theodor Vischer. Sein Nachlass liegt in Marbach, den wollte ich einsehen – und zwar möglichst komplett, ich hatte mir mehrere Tage dafür freigenommen. Doch dann legte man mir nur zehn Papiere aus dem Bestand vor – die Materialeinsicht ist limitiert. Das hat mich erst einmal schockiert. Später wechselte die Aufsicht, ich bekam dankenswerterweise viele grüne Archivkästen auf meinen Tisch, wurde später aber durchaus belehrt, dass das doch sehr unüblich sei. Das war mir peinlich, ich hatte das Gefühl, hier darf ich nie wieder herkommen. 

Es sollte anders kommen: Sie blieben dem Haus über Jahre verbunden, unter anderem durch Kooperationen der Universität Stuttgart mit dem DLA – etwa des Suhrkamp-Forschungskollegs und der Marbacher Sommerschule –, aber auch als Mitglied des Arbeitskreises Geschichte der Germanistik und als Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats des DLA. Seit Anfang dieses Jahres leiten Sie nun das Haus. Hatten Sie während all dieser Jahre manchmal den Gedanken: Wäre ich Chefin des Instituts, würde ich dieses oder jenes ändern? 
 
Nein, das war für mich kein Thema. Ich habe mich nie gefragt, ob ich Marbach leiten wollte. Das Ganze hat sich auch sehr kurzfristig entwickelt, ich bin erst kurz vor Ausschreibung der Stelle angerufen und gefragt worden. Erst da habe ich mir überlegt, wie ein Literaturarchiv der Zukunft für mich aussehen, wie ich es für seine Nutzer, seine Besucher entwickeln, und welchen Themen man mehr Raum als bisher geben könnte. 
Die Leiterin des Deutschen Literaturarchivs Marbach, Sandra Richter. Die Leiterin des Deutschen Literaturarchivs Marbach, Sandra Richter. | Foto: © picture alliance/Fabian Sommer/dpa Zu welchen Ergebnissen sind Sie gekommen und was haben Sie nun vor?
 
Zu meinen großen Zielen gehört die Digitalisierung der Bestände, aber auch das stärkere Arbeiten mit digitalen Ansätzen. Aus meiner Sicht zwei verschiedene Dinge: Bei ersterem geht es um Texterhalt, darum also, digital zu sichern, was wir früher auf Mikrofiche gespeichert haben. Das andere ist das wissenschaftliche Arbeiten mit den Digitalisaten. 
 
Können Sie das näher erläutern?
 
Das Digitalisat erlaubt ja mehr als nur das Ablegen von Daten. Ich sehe darin eine große Chance: Man kann Digitalisate so aufbereiten, dass sie quantitativ mit Maschinen durchsuchbar sind – auf Begriffe oder Textstrukturen aller Art. Zudem lassen sie sich auch mit anderen Texten verbinden. Man kann also eine Plattform bauen, verschiedene Texte dort hineinbringen und damit Dinge herausfinden, die man so bisher nicht oder nur unter Anstrengung gesehen hat. Wie oft der Faust im Faust auftaucht, ließe sich damit zum Beispiel mühelos erkennen. Oder auch, welche spezifische Querstruktur Schiller in seinen Dramen nutzt. Auch die Kataloge kann man immer mehr vernetzen, potenziell mit Forschungsdaten bestücken, auf andere Quellen verlinken und verweisen. Man könnte künftig auch einzelne verstreut liegende Nachlässe, denken Sie etwa an jenen Kafkas, digital miteinander verbinden. Außerdem wollen wir uns verstärkt um die Born-digital-Materialien kümmern, also um das Archivieren von Texten, die nicht originär mit der Hand, sondern auf dem Computer geschrieben wurden. Fakt ist: Der Computer ist mehr als ein Hilfsmittel. Er ist ein unterstützendes Gerät, das es erlaubt, Fragestellungen zu entwickeln, Fragen präziser zu stellen, präziser zu beantworten. 
 
Können diese neuen Ansätze die Literaturforschung verändern? 
 
Unbedingt! Beide Aspekte, sowohl die Digitalisierung als auch das Arbeiten mit den Ergebnissen, ziehen die Bereiche von Erschließung und Erforschung sehr viel stärker zusammen als bisher. Früher musste ein Bibliothekar oder Archivar versuchen, einen Text zu beschreiben, aufzunehmen, zu kategorisieren, zu sagen, wo er herkommt und wie er entstanden ist. Jetzt ist der Übergang zur Forschung fließend. Das finde ich sehr reizvoll, weil wir so aus den Archiven heraus die Forschung und die Lehre sehr viel stärker machen und den Nutzern einen noch größeren Mehrwert bieten können.
 
Nun gehen Sie all diese Projekte aber sicher nicht alleine an …
 
Nein, ich habe mir Partner gesucht, geschätzte Kollegen, mit denen ich zum Teil schon eine Weile zusammenarbeite. Dazu gehören Computerlinguisten, mit denen ich aktuell in einem Projekt namens Center for Reflected Text Analytics, kurz Creta, tätig bin. Mit diesen Spezialisten und einigen weiteren habe ich überlegt, wie wir in Marbach Ansätze der tiefen Textanalyse nutzbar machen können. Eine andere Kooperation geht in Richtung empirische Psychologie: Wir möchten Besucher beim Lesen von Digitalisaten und beim Umgang mit Texten unterschiedlicher Art beobachten. Dies geschieht in dem neu gegründeten Netzwerk für literarische Erfahrung – gemeinsam mit dem Leibniz-Institut für Wissensmedien in Tübingen und dem Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik in Frankfurt.
 
Sehen Sie das DLA für die Digitalisierung gut gerüstet? 
 
Tatsächlich ist das Archiv bald voll und muss dringend restrukturiert werden. Im Rahmen der Digitalisierung brauchen wir Räume für die Server, für die Digitalisierungsapparatur, Multimediaarbeitsplätze und Seminarräume mit entsprechender Ausstattung. Wenn wir hier keine Strukturen schaffen, etwa durch einen Neubau, kann Marbach in absehbarer Zeit nicht weiter sammeln und wachsen. Deshalb bin ich gerade viel unterwegs, um für weitere Investitionen zu werben.
 
Wie zuversichtlich sind Sie? 
 
Die Bedeutung des DLA ist in der Öffentlichkeit bekannt, dafür wurde schon durch meine Vorgänger sehr viel getan. Den meisten Kulturpolitikern ist klar, dass sich durch die Digitalisierung in den Archiven vieles verändert und Marbach mit seiner Sammelfunktion für Literatur und für die bedeutenden Quellen eine Vorreiterrolle auch in dieser Hinsicht hat und haben muss. Vor uns liegt eine Kraftanstrengung, die gelingen muss. Denn: Wenn es bei uns nicht geht, wo dann?