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Versuche einer Rückkehr
Baumlose Vögel

Feathers of Ideal
Feathers of Ideal (Ivana Miloš), monotype, collage and gouache on paper, 42 x 18 cm | Illustration: © Ivana Miloš

Der Filmkritiker Duarte Mata aus Lissabon nimmt den zwischen den Kinos umherirrenden Autor Patrick Holzapfel aus Deutschland mit auf einen imaginären Besuch im Cinema Ideal. Dort sehen sie A Metamorfose dos Pássaros von Catarina Vasconcelos, einen Film, der einen Gedankenstrom zu Müttern, Bäumen und dem Kino auslöst.

Von Patrick Holzapfel

Eigentlich wollte ich über das Kino schreiben. Aber als Duarte Mata nach unserem gemeinsamen Besuch von A Metamorfose dos Pássaros von Catarina Vasconcelos im Cinema Ideal in Lissabon von dieser Hymne an die Mütter schwärmte, wollte ich nur noch über meine Mama schreiben. Ich werde versuchen, über beide zu schreiben: das Kino und meine Mutter.
 
Ich kann mich nicht erinnern, wann ich zum ersten Mal mit ihr im Kino war. Ich denke, dass wir Bambi gesehen haben in einem Kino, das nach einem Tannenwald benannt war. Ich weiß das noch, weil ich heulend aus dem Kino getragen wurde von meinem Vater. Mein erster Film war stärker als ich. Ein Trauma. Ich konnte nicht ertragen, dass die Rehmutter erschossen wird. Seltsam, dass ich mich nur an die Schultern meines Vaters erinnere und nicht an das, was meine Mutter machte. Ich drückte meinen Kopf gegen seine Schultern, schämte mich meines Geschreis. Später haben wir einmal zusammen Chicken Run gesehen und zusammen sehr viel gelacht und an meinem Geburtstag sind wir manchmal ins IMAX nach München gefahren und haben uns Filme über die Pyramiden oder New York angesehen. Meine Mama hat mir dann immer gesagt, was ich sehen kann. Ich habe sie während des Films gefragt und sie wusste mir immer zu helfen. Sie hat mir das Sehen beigebracht.
 
Das war alles sehr groß für mich und ich hatte immer ein wenig Angst vor dem Kino. Es gab da eine Schwerelosigkeit, die vom Blicken kommt. Ich musste erst verstehen, dass nichts passieren kann. Diese Angst hat sich inzwischen gelegt, das heißt, sie zeigt sich anders. Einmal hat mich Mama mit meinen Cousins und ihrer Schwester in einen Star-Wars-Film genommen. Es war der Film, in dem der junge Jedi-Ritter von seiner Mutter getrennt wird. Ich glaube, dass das Kino mich schon immer auf diese brutalen Trennungen vorbereitet hat. Verstanden habe ich das erst später.
 
Irgendwann war das Kinogehen männlich konnotiert. Das lag vielleicht an den Filmen, die mich interessierten. Später hatte es dann etwas Geheimes an sich, weit weg von den Eltern. Ich wurde mit Erotik und Gewalt konfrontiert und wir versteckten uns in den hinteren Reihen und trieben allerhand Unfug. Da war wenig Platz für eine Mutter. In die Herr-der-Ringe-Filme nahm sie mich trotzdem noch mit. Mein Vater hielt alle Filme, in denen es keine Autos gab, für „Mittelalterscheiße“, daher ging ich mit Mama. Ich erinnere mich nicht, ob ihr die Filme gefielen. Aber sie sah sie sich immer an, wenn sie später im Fernsehen kamen. Sie saß dann im dunklen Wohnzimmer, rauchte, trank ein Glas Wein und stellte die Lautstärke so ein, dass nur sie etwas hören konnte. Wegen ihr habe ich diese Filme viel sanfter in Erinnerung, als sie eigentlich sind. Ich habe nie viel über Filme gesprochen mit meiner Mutter. Manchmal habe ich es versucht und manchmal hat sie es versucht, aber wir haben uns irgendwann nicht mehr in den Filmen gefunden. Ins Kino wollte sie auch nicht mehr gehen. Sie sah lieber fern. Vielleicht ging sie noch in ein paar deutsche Komödien, Filme, die ich mied. Sie erzählte mir dann, dass sie sehr lachen musste.

Ich habe nie viel über Filme gesprochen mit meiner Mutter. Manchmal habe ich es ver-sucht und manchmal hat sie es versucht, aber wir haben uns irgendwann nicht mehr in den Filmen gefunden.

So ist das. Man geht ins Kino, sieht einen Film und dann denkt man an alles mögliche außer den Film. Vielleicht war es das, was Jonas Mekas meinte, als er in einem Zwischentitel verkündete: You look at the sun, then you return home and you can’t work, you’re impregnate with all that light.
 
Die Kinos, in denen ich mit meiner Mutter war, gibt es alle noch. Das ist mir wichtig, so richtig kann ich gar nicht sagen weshalb. Womöglich weil Kinos Orte sind, die Erinnerungen speichern. Ich denke daran, als Duarte Mata mir von der Geschichte des Cinema Ideals erzählt. Er sagt mir, dass es das älteste Kino Lissabons sei. Vor nicht allzu langer Zeit seien dort Pornofilme gezeigt worden. Nun sei es aber einer der wenigen verbliebenen Orte gelebter Cinephilie. Mit meiner Mama war ich nur in unserer Heimatstadt im Kino. Ich weiß, dass sie einmal in Lissabon war und versuche mir vorzustellen, wie sie durch die Glastür ins Foyer tritt, es sich auf einem der Sessel im Obergeschoss bequem macht, vielleicht eine Zigarette auf dem Balkon raucht und auf die Glocke wartet, die den Beginn des Films ankündigt. Es gelingt mir nicht. Ich kann mir meine Mama gar nicht allein im Kino vorstellen, nur mit mir.
 
Ich höre die Glocke jetzt manchmal in der Nacht und denke, dass der Film beginnt. Dann sehe ich, wie ich mit meiner Mama in den Dünen von Maspalomas springe oder wie sie an ihrer Schreibmaschine sitzt oder wie sie sich genervt von der Kamera abwendet, weil sie sich im falschen Film wähnt. Ich glaube nicht, dass es einen Film wie A Metamorfose dos Pássaros über meine Mutter geben könnte. Duarte Mata beschreibt die Mutter des Films als einen Baum, der die Vögel schützt, ihnen ein Heim gibt. Die Abwesenheit des Baumes ließe die Vögel allein zurück. Auch wenn ich dieses Bild sehr mag, ich kann meine eigene Mutter nicht in einer Metapher sehen. Ich würde diese Dinge gerne mit Duarte Mata teilen, aber das geht nicht.
 
Nach dem Film sprechen wir nicht, das heißt, wir sprechen über das Kino. Er sagt mir, dass er um das Kino fürchtet. Ich pflichte ihm bei. Ich frage mich, ob das genügt: man geht ins Kino und denkt an jemanden, der nicht mehr da ist. Eigentlich versuche ich mich dagegen zu wehren. Ich will nicht nur mich selbst oder mein eigenes Leben auf der Leinwand erkennen. Aber es gelingt mir nicht immer. Trotzdem bewegt sich etwas in mir. Es liegt an Duarte Mata, der anders über den Film denkt als ich. Es macht den Film größer, dass er nicht nur in mir existiert. Er betont die sanfte Melancholie und Intimität des Films, der in jedem Bild die Liebe der Filmemacherin zu ihrer Mutter und Großmutter ausdrücke. Ich dagegen bin ganz taub vor all der Schönheit, die der Film mit sich trägt. Während Duarte Mata eine direkte Verbindung zwischen den Oberflächen und dem Innenleben des fiktionalen Essays herstellt, verliere ich mich in einer Art Stendhal-Syndrom. Jedes Bild will so schön sein. Es ist ein Überschwang der Gefühle, der Duarte Mata bewegt und mich entfremdet. Ich bin mir nicht sicher, ob meiner Mutter dieser Film gefallen hätte. Sie mochte es schlichter.

Nach dem Film sprechen wir nicht, das heißt, wir sprechen über das Kino. Er sagt mir, dass er um das Kino fürchtet. Ich pflichte ihm bei. Ich frage mich, ob das genügt: man geht ins Kino und denkt an jemanden, der nicht mehr da ist.

Eine Zeit lang war es mir sehr wichtig, dass meine Mama dieselben Filme mochte wie ich. Irgendwann habe ich das aufgegeben. Sie ist zu oft eingeschlafen, wenn ich ihr zuhause etwas zeigte. Aber manchmal hat sie Dinge gesagt, die mir die Augen öffneten und mich glücklich machten. Zum Beispiel hat sie einmal über einen Film gesagt, dass sie ihm mehr vertraue als seinen Schauspielern. Das denke ich bis heute oft, wenn ich Filme sehe.
 
Eigentlich wollte ich gar nicht ins Kino. Das passiert mir immer häufiger. Wenn ich schon in Lissabon bin, dachte ich mir, dann will ich doch nicht ins Kino. Irgendwie ist das Kino ein Schritt in die Welt, wenn man zuhause ist und eine Erinnerung an zuhause, wenn man woanders ist. Gewissermaßen ist es ein Miradouro, der nach innen und nach außen blicken lässt.
 
Zuhause angekommen denke ich über den Film und die Worte Duarte Matas nach. Vor meinem Fenster wächst eine riesige Traubenkirsche. Ich glaube ihr in ihrem Panikblütengewand nicht mehr als allen anderen, die sich schön anziehen, um andere zu beeindrucken. Aber ich glaube den Tauben, die in dieser grün-weißen Gischt aus Blättern und Blüten schlafen, den Eichhörnchen, die selig auf den Ästen schlummern, den Amseln, die in die raschelnde Krone singen, als wären dort alle Geheimnisse besonders gut aufgehoben, und dem Wind, der sich ständig dorthin verirrt, wie ein einsamer Großstädter, der jeden Abend in der selben Kneipe Unterschlupf findet. Und ja, ich habe sogar einen Tiger auf dem dicksten Ast schlafen sehen, vom Frühlingsduft angelockt hat er es sich dort bequem gemacht und sich mit feinstem Blütenstaub getarnt und friedlich den Tauben beim Gurren gelauscht. Sie war also nicht umsonst, die Schönheit, die dieser Baum zur Schau stellte.
 
Wahrscheinlich ist das mit allen Bäumen so. Sie sind mal Kino, mal Mutter und meist beides zugleich.
 

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