Ulrich Köhler
Ambivalenz und Komplexität
Ulrich Köhler sticht hervor. Er blickt mit nur fünfzig Jahren auf etwas zurück, das man guten Gewissens als ein Kunstwerk bezeichnen darf. Seine Arbeiten eint ein häufig humoristischer Blick auf die Nichteindeutigkeiten und Widersprüchlichkeiten einer Welt mit Faktizitätsanspruch. Im Foco der diesjähirgen Mostra KINO steht die Retrospektive von Köhlers Werk.
Von Tobias Hansen
In seinen Interviews wirkt er stets unaufgeregt. Und doch erahnt man eine gewisse Umtriebigkeit Ulrich Köhlers: in der Art, wie er spricht, und dem Gedankenstrom, der wohl dahintersteht. Es scheint, als vertrage sich dieser Scheinwiderspruch ganz hervorragend mit Köhlers filmischem Werk, denn auch seine bislang fünf Spielfilme eint der Widerspruch. Porträts, an denen wir nicht dranbleiben, flüchtige Charaktere, die auf der Stelle treten, unsere Sympathien trotz ihrer Fremdheit erntend. Auch wenn sie nie von ihm selbst erzählen, verraten diese Filme doch viel Persönliches über Köhler, der nach Abdrehen eines Films immer wieder selbst feststellt, dass er da eine Figur gezeichnet hat, die er selbst hätte sein können.
Das Privileg, nicht gleich zu sein
Geboren am 15. Dezember 1969 in Marburg an der Lahn, Hessen, wächst Köhler zwischen seinem fünften und neunten Lebensjahr in Zaire auf, wo seine Eltern in der Entwicklungszusammenarbeit tätig sind. Im Rückblick führt ihm sein dortiges Leben vor Augen, wie privilegiert er ist: zum Beispiel, wenn er und die übrigen Kinder der weißen Entwicklungshelfer*innen allein aufgrund ihrer Vielzahl an Spielzeugen und ihres Status schamlos bestimmen können, wer ihre Freunde sein sollen und wer nicht.Zurück in Deutschland wird es nicht einfacher, dazuzugehören. Anfang der vierten Klasse, so erzählt er, habe sich ein Mitschüler mit ihm solidarisieren wollen, weil sie als „Türke“ und „Afrikaner“ zueinander gehörten. Bis Köhler seine erste Eins bekommen und ihm der andere zu verstehen gegeben habe, dass er mit einem Streber nichts zu tun haben wolle.
Im Ausland ist mir sehr wohl bewusst geworden, dass ich ein Deutscher bin und dass ich aus einem bestimmten kulturellen und sozialen Umfeld komme. Dieses Bewusstsein entwickelt man vielleicht erst, wenn man sowas wie Heimat verloren hat oder wenn man sie verlassen hat.
Ulrich Köhler
Der Weg zum Film
Nach der Schulzeit, die Köhler zeitweise im Austausch in den USA verbrachte, beginnt er, im bretonischen Quimper Kunst zu studieren. Erst dort entdeckt er seine Leidenschaft für den Film, mit dem er bis dahin in seinem kleinstädtischen Heimatort und unter der pädagogischen Ägide seiner Eltern, die zu Hause keinen Fernseher duldeten, kaum in Berührung gekommen war.Auf das Kunststudium folgen sieben Studienjahre der Philosophie und der Visuellen Kommunikation an der Hochschule für Bildende Künste in Hamburg. Während dieser Zeit lernt Köhler sein filmisches Handwerk.
Eine wirklich kurze Retrospektive
Nach einer Reihe nennenswerter Kurzfilme, darunter Palü (1998) und Rakete (1998/1999), dreht Köhler 2001/2002 seinen ersten Spielfilm. Bungalow ist „ein vereitelter Roadmovie“ über einen jungen Menschen aus dem bürgerlichen Mittelstand und ländlicher Umgebung, der zu verstehen versucht, wohin er passt und was er will. Weder Held noch Antiheld, vermag er es, unser Mitgefühl gerade durch sein unverständliches, lethargisches Handeln zu erwecken.Köhlers zweiter Spielfilm Montag kommen die Fenster (2004-2006) ist eine Gratwanderung zwischen dem Aufzeigen sozialer Enge, der die Protagonistin zu entfliehen versucht, und der künstlerischen Ablehnung, dieser Flucht nach vorne eine tragisch-melancholische Note zu verleihen. Der Film macht sich nicht die Transformation der Hauptfigur durch eine singuläre Krise und deren ermutigenden Ausgang zum Thema, sondern wirft einen ungeschönten Blick auf ein gesättigtes Dasein.
Mit In My Room (2016-2018) geht Köhler fünf Jahre später einer ähnlich grundlegenden Frage nach: „Was sind wir frei von sozialen Zwängen? Also wer sind wir? Und woraus sind wir gemacht? Wenn wir Produkt unserer (sozialen) Interaktionen sind, was sind oder werden wir, wenn diese plötzlich aufhören zu existieren?“ Das dystopisch anmutende Szenario, das Köhler aus dieser Fragestellung entwickelt, ist eine weitere (für Köhler typische) Analyse der bürgerlich-gesättigten Generation seiner Zeit und ihrer ‚Luxusprobleme‘.
Obwohl Köhler glaubt, „auch gar keine Filme über Lebenswelten machen [zu können], die [er] nicht kenne“, sucht er nach den beiden sehr persönlichen Produktionen Schlafkrankheit und In My Room mehr Distanz und Raum für Kreativität. Dies begründet seine Zusammenarbeit mit Henner Winckler in Das freiwillige Jahr (2019). Das Ergebnis ist eine Contradictio incarnata namens Urs und dessen Projektionen eigener verpasster Ambitionen auf seine Tochter. Im Geiste weltoffener Liberalität drängt er diese zu einem freiwilligen Jahr im Ausland, fernab der öden, hinterwäldlerischen Provinz.