Ein Essay von Nadia Sales Grade
Utopie einer Bürgerin

Bürgerliche Utopie
Foto (Ausschnitt): © Matteo Grando / Unsplash

Der Mensch ist ein Haufen von Wurzeln. Wurzeln, die dem Leben einen Sinn geben, die unsere Überzeugungen mal verstärken, ein anderes Mal zerstören. Die Raum schaffen, um ein neues Paradigma der Zukunft zu errichten - eines, in dem wir Träume, Visionen und Hoffnungen verankern, eines, in dem die Vorstellungskraft uns dazu bringt, im Alltag unsere Überzeugungen in die Tat umzusetzen.

Von Nadia Sales Grade

Unter all den Wurzeln, die unsere Ursprünge bilden, gibt es solche, die in der Schublade der Erinnerung vergessen werden - woher wir kommen - und andere, die uns täglich beschäftigen - wohin wir gehen. Aber in all ihnen steckt der Plural, der kollektive Sinn unserer Existenz, der uns nicht nur ein Ich sein lässt, das sich unabhängig von seiner Umgebung bewegt oder unabhängig von ihr denkt.

In Zeiten, in denen die Individualität - die viele auf die grausame Art und Weise zurückführen, mit der sich der Kapitalismus in unseren Leben eingenistet hat - die einzige Daseinsform in unseren Gesellschaften zu sein scheint, erlaubt uns der Blick auf die kollektiven Wurzeln unserer Existenz, auf utopische Weise über unsere Zukunft nachzudenken und diesen Gedanken, der an sich schon Zeichen einer Absicht ist, mit einem radikalen Aktivismus aufzuladen, der ihm eine Richtung gibt. Wir werden kollektiv und in Aktion geboren. Ebenso finden wir in der Kollektivität unsere Wurzeln wieder oder entfernen uns von ihnen, indem wir das, was wir sind und woran wir glauben, auf den Anderen oder die anderen projizieren, die unsere Existenz ausmachen.

Wir, die Generationen des 21. Jahrhunderts, leben seit 22 Jahren in einem Zustand der geistigen Verkümmerung, der durch einen beispiellosen Rückschritt im Hinblick auf unsere Rechte und Pflichten gekennzeichnet ist. Terrorismus, Pandemien, wirtschaftliche Ungleichheiten, Kriege, die Klimakrise oder die Rückkehr zu Nationalismen, die systematisch jeden Sinn für humanistische Kollektivität zunichtemachen, haben über die Zeit ein Gefühl von Ohnmacht, Unfähigkeit und Untätigkeit genährt und dazu beigetragen, soziale Apathie zu legitimieren.

In Zeiten, in denen wir spüren, dass unsere Grundrechte zugunsten eines Diskurses der Angst und der Unsicherheit in Frage gestellt werden, ist es umso dringender, dass wir als Kollektiv denken und handeln und auf das blicken, was uns tatsächlich glücklicher machen kann. 

Die wahre Utopie ist diese: die Verheißung der Demokratie zu verwirklichen.

Die bürgerliche Utopie ist eine Harmonie, die kein Ende kennt, Klänge, die sich zusammenfügen und uns Schritt für Schritt in allen Bereichen unseres Lebens begleiten. Eine Harmonie, die nur möglich ist, wenn sie gemeinsam gedacht wird, und die ihre Form aus der Essenz unserer Rechte und Pflichten zieht.

Die Harmonie-Gleichheit, in der sich die Mehrheit endlich als Summe von Minderheiten begreift, in der keiner dem anderen überlegen ist und in der wir die Rolle anerkennen, die wir in der Gesellschaft, in der wir leben - als Mitglieder einer Familie, eines Arbeitsteams, einer Nachbarschaft, eines Landes – spielen müssen.

Die Harmonie-Gleichberechtigung, die Unterschiede in der Herkunft nicht ignoriert und sie abmildert, indem sie der ganzen Menschheit Würde verleiht, die weder die Lebensbedingungen, in die sie hineingeboren wird, noch die Hindernisse, denen sie in ihrem Leben begegnet, selbst wählt. 

Die Harmonie-Gerechtigkeit, in der jede Diskriminierung Konsequenzen für diejenigen hat, die sie ausüben und die Menschenwürde verletzen, und in der die Autorität, so es sie denn geben muss, zum Schutz vor jeder Art von Gewalt oder Verletzung der Grundrechte ausgeübt wird.

Die Harmonie-Freiheit, die in Respekt und Akzeptanz des Anderen dazu beitragen kann, dass sich jeder Mensch frei fühlt, zu sein, zu fühlen und zu wünschen, was immer er für sein Leben für richtig hält, ohne Zwänge, die von Grenzen und Vorurteilen herrühren, die durch Gewohnheit, Konvention, oder einen Mangel an Hinterfragen auferlegt werden.

Die Harmonie-Bürgerschaft, ein echtes Bewusstsein für unsere Rechte und Pflichten und unsere Rolle, die existenziell politisch ist. Eine Politik, die nicht nur von demokratischen Institutionen, transparenten Wahlen und Plenarsitzungen unserer Parlamente abhängt, sondern davon, dass wir durch unser Handeln aktiv und partizipativ sind und damit auch den Anderen verändern.

Die wahre Utopie ist diese: die Verheißung der Demokratie zu verwirklichen, indem wir vollständig zu unseren Wurzeln zurückkehren - woher wir kommen und wohin wir gehen -, um tatsächlich in einer Welt zu leben, in der der Humanismus die einzige Lösung ist.

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