Anastasia Karkatcheva
Ausstellung: Verteidigung und Blockade Leningrads

900 und etwa 26.000 Tage
900 und etwa 26.000 Tage

Im Neuen Museum in St. Petersburg war 2017 die Ausstellung „900 und etwa 26.000 Tage“ zu sehen, die auf den Ergebnissen eines Projekts beruht, an dem Studierende der Schule für junge Künstler der PRO ARTE Foundation, St. Petersburg, der Moskauer Rodtchenko-Schule für Fotografie und Multimedia und der Hamburger Hochschule für bildende Künste (HFBK) teilnahmen. Das Goethe-Institut als Projektinitiator schlug den Teilnehmern vor, darüber nachzusinnen, wie eine Gedenkstätte der Leningrader Blockade in Hamburg aussehen könnte, welche Formen das Gedenken annehmen und wie man es heute artikulieren kann. Anastasia Karkatcheva hat die Ausstellung und die Fragen des Gedenkens untersucht.
 

Einer meiner Freunde fragte mich einmal: was gehört zum kollektiven Gedächtnis von Menschen, die in St. Petersburg aufgewachsen sind? Die Blockade zählt für mich zweifelsohne zu den Grundpfeilern dieses Gedächtnisses. Schulausflüge zum „Aufgebrochenen Ring“ und zum Piskarevskoje-Gedenkfriedhof. Das Beton-Tagebuch von Tania Savitcheva auf dem 3. Kilometer der Riabovskoye-Chaussee. An Gedenktagen auf der Aulabühne erklingende Blockade-Gedichte von Olga Bergholz. Das Metronom. Die 125 Gramm Brot der Blockade, ein winziges schwarzes Stückchen, um welches zu betrachten man uns Fünftklässler ins Museum führte. Ich weiß nicht, wie es bei heutigen Schülern ist, aber am Ende des ersten postsowjetischen Jahrzehnts nahm das Gedenken an die Blockade einen festen Platz in unseren jungen Köpfen und Herzen ein. Dieses war größtenteils von den normativen Betrachtungsweisen bestimmt, die uns die Lehrer und die „Orte des Erinnerns“ vermittelten.
 
Der Zugang zu Archivdokumenten hilft, diese Betrachtungsweisen zu erweitern: zu Beginn der 2000er-Jahre kam in Russland eine ganze Reihe Bücher und Artikel heraus, die auf dem zuvor unbekannten Material der Blockade-Archive basierten. Hingegen ist die Leningrader Blockade in Deutschland trotz aller Feinfühligkeit der deutschen Gesellschaft für Fragen des Gedenkens immer noch ein weißer Fleck sowohl in der Erinnerungskultur als auch in der Geschichtswissenschaft und die Veröffentlichungen zum Thema lassen sich an einer Hand abzählen. Zum 60. Jahrestag des Endes der Blockade im Jahr 2004 fand in dem Deutsch-Russischen Museum Berlin-Karlshorst eine Ausstellung mit Archivdokumenten der belagerten und der belagernden Seite statt. Die Ausstellungsmaterialien wurden veröffentlicht und die Ausstellung war im darauffolgenden Jahr in Hamburg zu sehen. Drei Jahre später kam Jörg Ganzenmüllers Buch „Das belagerte Leningrad 1941–44“ heraus, in dem der deutsche Autor im Anschluss an seine Untersuchung von Archivmaterialien über die Führungsriege des Dritten Reiches, über Pläne, Strategien, Tagebücher etc. als einer der Ersten die Belagerung Leningrads als einen Genozid bezeichnete. Eine große Resonanz in der Presse erfuhr die Veröffentlichung des Tagebuchs von Lena Mukhina in der deutschen Übersetzung im Jahr 2014: man nannte das 16-jährige Mädchen „eine russische Anne Frank“.
 
Auf dieser wachsenden Welle der Aufmerksamkeit ist das Projekt des Goethe-Instituts „900 und weitere 26.000 Tage“, das junge Künstler aus Russland und Deutschland in ihrem gemeinsamen Bemühen vereint, das Gedenken an die Leningrader Blockade wach zu halten, zweifellos ein wichtiger Schritt zum „dialogischen Erinnern“.[1] Die Hinwendung zur visuellen Darstellung, die augenblicklich wahrgenommen werden kann,  spiegelt das Anliegen wider, die Erinnerung an die Blockade aus dem Bereich der engen Spezialisierung von Geschichtswissenschaftlern herauszuführen und sie einem breiten Publikum in Deutschland zugänglich zu machen und in Russland den Kanon zu erneuern und auf den neusten Kenntnisstand zu bringen. Hier stehen die Künstler vor der komplizierten Aufgabe, die Stereotypen des offiziellen Diskurses vermeidend, eine passende Ausdrucksweise für das Gespräch über dieses schwierige Thema zu finden. Deshalb war das Projekt, das bereits im Jahr 2014 begann, in vielerlei Hinsicht lehrreich und experimentell. Die Studenten besuchten gemeinsam mit ihren Professoren historische Orte, tauschten sich über ihr Wissen und ihre Erinnerungen aus und diskutierten miteinander. Als Ergebnis kam eine Ausstellung im Hamburger Kunstverein im Jahr 2015 zustande. Zwei Jahre später erreichte sie dann auch St. Petersburg: die Studenten haben in der Zwischenzeit ihr Studium beendet, zwei deutsche Teilnehmerinnen der ersten Ausstellung sagten ihre Teilnahme an der zweiten Ausstellung ab, ein Teil der Projekte wurde verändert oder nachgebessert. Zu Beginn des Projekts lautete die Aufgabenstellung wie folgt: es sollte ein Projekt für ein realisierbares Blockade-Mahnmal in Hamburg entstehen. Es kamen Mahnmale im weitesten Sinne heraus: von ortsspezifischen Projekten für die städtische Umgebung und Museumsausstellungen bis hin zu bedingten Mahnmalen, die weder für einen konkreten noch für einen beliebigen Ort vorgesehen waren. Und obwohl wir natürlich berücksichtigen müssen, dass es eine studentische Ausstellung ist und dass wir vor uns vielmehr Entwürfe als verwirklichte Arbeiten haben, können wir anhand dieser durchaus Anzeichen des gegenwärtigen Gedenkzustandes an die Blockade außerhalb der Historikerkreise sowohl in Russland als auch in Deutschland ablesen.
 
Die deutsche Forscherin Aleida Assmann schlägt vor, den Begriff kollektives Gedächtnis in soziales, politisches und kulturelles Gedächtnis zu unterteilen. Die Auseinandersetzung mit jedem dieser Gedächtnistypen und ebenso mit ihren Mischformen und Variationen können wir in der St. Petersburger Ausstellung im Neuen Museum vorfinden.
 
Das soziale Gedächtnis ist laut Assmann mit dem Gedächtnis der Generationen verbunden, es ist veränderlich und wird von der Oral History erforscht, deren Sinn das Projekt Alexandr Androsovs und Vadim Zaitcevs „Die Bibliothek der Erinnerung“ nachspürt, eine Webseite, die Ausschnitte aus Videointerviews mit Blockadeüberlebenden enthält, die dem Nutzer in Form von Antworten auf Fragen präsentiert werden. Das politische Gedächtnis ist starrer, es wird bewusst symbolisch von Gruppen und Institutionen konstruiert und von Generation zu Generation mittels Gedenkorten und Denkmälern weitergegeben. Alexey Grachev bedient sich aus dem Instrumentarium des politischen Gedächtnisses, wenn er vorschlägt, an einer Hamburger Straße den Schriftzug „Bei Artilleriebeschuss ist diese Straßenseite äußerst gefährlich“ anzubringen und einen Lautsprecher zu installieren, aus dem das Klopfen des Metronoms ertönt. Die normative Symbolik reproduzierend, schlägt der Künstler letztlich ein Mahnmal vor, das die Möglichkeit der Wiederholung tragischer Ereignisse in einer anderen, friedlichen Stadt anmahnt. Dabei stand in der deutschen Erinnerungskultur bereits in den 1970er Jahren die Idee eines Monuments als einem „Speicher der Vergangenheit“, die zurückkehren und reaktiviert werden kann, in der Kritik. [2] In einer Zeit des Umdenkens des Denkmals hin zu einem „Gegendenkmal“ (vgl. James Young), unter Ablehnung der Repräsentation, des Pathos der Schuld und der Romantisierung der Opfer ist mehr als eine Generation von Künstlern in Deutschland herangewachsen. Daher rührt wahrscheinlich der kritische Umgang mit dem politischen Gedächtnis, der dem deutschen Ausstellungsteilnehmer Roy Huschenbeth, der die Fiktionalität jeder Repräsentation von Geschichte bekräftigt, eigen ist.
 
Das kulturelle Gedächtnis nach Assmann kann wiederum aktiv (kanonisch) und ein Speichergedächtnis sein. Das aktive Gedächtnis tritt in kollektiven Praktiken des Wiedererinnerns, dem literarischen und visuellen Kanon, in Erscheinung. Es verschmilzt oft mit dem politischen Gedächtnis. Eben solche Verschmelzungen stellen die Kindheitserinnerungen im ersten Absatz dieses Artikels dar (ich bin mir sicher, dass die meisten meiner gleichaltrigen Zeitgenossen diese teilen, die russischen Ausstellungsteilnehmer eingeschlossen). Die Arbeit von Nadia Degtyareva und das Projekt der Gedenkausstellung von Alexandr Androsov und Vadim Zaitcev entstanden aus dem Kanon des Blockadenarrativs, den Geschichten über Tanya Savichevas Tagebuch und dem Brand in den Badaev-Depots. Doch während Nadia Degtyareva mit „Flugblatt №“ eine unerwartete Kontext-Verschränkung gelingt, in deren Ergebnis Tanya Savicheva zur Ikone einer scheinbaren Widerstandszelle in Deutschland wird, so stellt das Projekt Androsovs und Zaitcevs eben die gleiche kanonische Geschichte über die „süße Erde“ in einer etwas zeitgemäßeren Gestaltung dar. Mit einem solchen Projekt könnte sich das Museum der Verteidigung und Blockade Leningrads ausrüsten, wenn eine Neugestaltung der Ausstellung im Sinne des Moskauer GULAG-Museums geplant wäre.
 
Im Übrigen könnte das Blockade-Museum ebenso die Arbeiten von Anastasia Kizilova („Hungerküche“) und Vadim Leukhin („Schwarzes Licht“) ins Auge fassen. Weniger bekannten Themen gewidmet, tendieren sie Assmanns Klassifizierung zufolge zum Speichergedächtnis und genau genommen zu dem Prozess, bei dem das Speichergedächtnis in aktives Gedächtnis übergeht. Das findet statt, wenn es einer breiten Öffentlichkeit zugänglich wird und ins Allgemeinwissen eingeht. So ist zum Beispiel das im Jahr 1996 veröffentlichte Tagebuch des Leningraders Ivan Zhilinsky immer noch nicht weithin bekannt. Anastasia Kizilova „überträgt“ dieses in eine einfache Chiffre, indem sie die Lebensmittel der knappen Ration Zhilinskys und dessen Familie in Reihen auslegt. Es ähnelt den Fotografien des beliebten Blogs Things Organized Neatly, wobei einem von dieser gewollten oder ungewollten Analogie etwas unbehaglich wird. Vadim Leukhin erzählt anhand musealer Ausstellungsobjekte, wie einer Infotafel, einer Archivkopie, Vitrinen mit historischen Artefakten und einem dekorativen Wandbild eine Geschichte über leuchtende Anstecknadeln, deren trübes Leuchten den Leningradern dabei half in der Dunkelheit der belagerten Stadt nicht zusammenzustoßen. Dieses Thema zählt bisher auch nicht zu dem Wissen des breiteren Publikums, obwohl es in der wissenschaftlichen Literatur vorkommt (zum Beispiel in dem Artikel von Polina Barskova „Schwarzes Licht: Das Problem der Dunkelheit in Leningrad während der Blockade“ [3]) und deshalb ein guter Fund für ein traditionelles Museum wäre.
 
„Das kulturelle Gedächtnis verfügt über die inhärente Fähigkeit zur ständigen Veränderung, Erneuerung, Transformation und Rekonfiguration“ [4]– schreibt Aleida Assmann. Eines der Mechanismen einer solchen Erneuerung ist die „Vergegenwärtigung“, die ein Künstler bei der Auseinandersetzung mit dem einen oder anderen Thema umsetzen kann. Tim Theo Geissler und Tobias Muno „vergegenwärtigen“ den literarischen Kanon, indem sie drei Smartphones verwenden, auf deren Displays eine Art News-Feeds aus den Kurzchroniken der drei belagerten Städte Leningrad, Troja und Aleppo projiziert werden. Die Arbeit beruht auf einem Verfahren und erfasst das Thema nicht in seiner ganzen Tiefe. Können wir dies als eine Ermüdungserscheinung junger Menschen infolge der Nachkriegserinnerungskultur in Deutschland auffassen, von der sie seit ihrer Kindheit umgeben sind?
 
Wenn es schließlich tatsächlich jemandem gelingt die «Vergegenwärtigung» der Erinnerung umzusetzen, dann dem Moskauer Autorenkollektiv bestehend aus Dzina Zhuk, Semen Kats und Nikolay Spesivtsev, die das Stück „Plan der Wohnung von Herrn Kucharski“ geschrieben haben, in der sowjetische Militärchefs einen Film von Sergey Loznica kritisieren, ein Moskauer It-Girl inmitten ihres Detox-Programms permanent auf Gedanken über die Hungererfahrung während der Blockade zurückkommt und Projektteilnehmer von „900 und etwa 26 000 Tage“ sich über das Gedenken und Denkmäler beim Besuch des Piskarjovskoe-Gedenkfriedhof unterhalten. In der Ausstellung wird das Stück in Form einer Broschüre vorgestellt, die von den Autoren als eine Art Entwurf zu einer finalen Werkfassung vorgesehen ist. Die Aufführung soll mit Amateurschauspielern stattfinden, die durch eine Annonce gefunden werden.
 
Wir suchen nach neuen Verfahren, um über das uns bewegende, widersprüchliche und schwere Thema zu sprechen, indem wir moderne Technologien heranziehen oder wenig bekannte Quellen entdecken. So wie sich Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Notwendigkeit konfrontiert sah, die Monumentalkunst, die zuvor nur der Repräsentation des Triumphs oder der Trauer gedient hat, gänzlich umzuformatieren, so wird sich auch Russland, wo neue Archive geöffnet werden, möglicherweise in einiger Zeit in der Situation vorfinden, in der alte Gedenkstätten nicht mit dem neuen Wissen korrespondieren. Und wenn Deutschland die Antwort im „Gegendenkmal“ fand, einem ungegenständlichen, beunruhigenden, für die Diskussion aufgeladenen Mahnmal, dann führt Russlands Weg zu einer neuen Repräsentation (oder Nicht-Repräsentation) der Erinnerung möglicherweise durch den Text, die Rede, den Brief. Was ist, wenn man, um auf neue Art zu sprechen anzufangen, einfach anfangen muss zu sprechen?

[1] Die deutsche Wissenschaftlerin Aleida Assmann meint mit dem «dialogischen Erinnern» ein «Aufnehmen traumatischer Erinnerungen eines anderen Landes in das eigene nationale Gedächtnis», das im Stande ist «die von nationalen Grenzen umrissene monolithische Gedächtniskonstruktion» zu sprengen.
[2] Vgl. Vortrag von K. Poluektova-Krimer: „Die deutsche Gedenkpraxis und ihre Wechselbeziehung zur Nazi-Vergangenheit: das Gegendenkmal“, Moskau, 25.05.2011, zitiert nach E. Abramova: „Der runde Tisch“ und offene Diskussion „Kollektives Gedächtnis im Stadtraum“.
[3] Veröffentlicht in der Zeitschrift „Neprikosnovenny Zapas“, Nr.70 (2/2010).
[4] Vgl. A. Assmann: „Reframing Memory: Between Individual and Collective Forms of Constructing the Past“

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