Matthias Nawrat
Sibirien-Tagebuch (Teil 2)

Sibirien-Tagebuch (Teil 2)
© Matthias Nawrat

Halbzeit der Autorenresidenz in Sibirien. Diesmal nimmt uns Mattias Nawrat in den Zentralpark von Nowosibirsk mit. Auf einem Spaziergang durch Akademgorodok lernt er die Besonderheiten der Wissenschaftsstadt kennen. Zurück in Nowosibirsk erlebt er vom Wohnzimmerfenster aus blickend ein Naturschauspiel am Stadtrand. Seine Beobachtungen und persönlichen Eindrücke der zweiten Woche schildert er im folgenden Blogeintrag.

Sonntage
Es ist Sonntag, im Zentralpark scheint die Sonne, auf den Wegen leuchten gelbe Blätter. In einer halben Ananas sitzen eine Frau und ihre erwachsene Tochter, sie lachen und kreischen und wirken überrascht, während die Ananas sich auf einer Scheibe im Kreis mit den anderen Ananassen dreht und um sich selbst, sodass sie sich gegen die Bewegung stemmen müssen. Im Zentrum der Scheibe sitzt ein Orang-Utan aus Plastik und hält eine Ananas in jeder Hand. Man spaziert hier am Sonntag durch den Park, und dann setzt man sich in eine Ananas und wird durchgeschüttelt und fühlt sich danach bereit für die neue Woche. Zwei uralte Freundinnen, die vielleicht noch den letzten Weltkrieg, ganz sicher aber die stalinistische Epoche und die Sowjetunion erlebt haben, sitzen in schicken Sonntagskleidern auf einer Parkbank und beobachten die vorbeispazierenden Jungfamilien mit ihren Kinderwägen, geben von Zeit zu Zeit einen Kommentar ab. Auf einem Karussellpferd sitzt ein Mädchen, neben dem seine Mutter auf der Drehscheibe steht und ihm etwas ins Ohr flüstert, woraufhin das Mädchen aus dem Karussell in die Menge der Umstehenden schaut und winkt, mit einem von der Fahrt erschrockenen Gesicht.

Auf den Gehwegen des Parks riecht es nach Zuckerwatte. Und ich erinnere mich an meine Kindheit, als ich einen Jungen sehe, der einen Schritt hinter seinen Eltern hergeht, mit einer schiefen Frisur und in einer Dreiviertelhose und mit beleidigtem Gesichtsausdruck.

Eine neue Utopie
Bei einem Spaziergang durch das Wissenschaftsstädtchen Akademgorodok kann ich Pilze und die Kiefernnadeln auf dem feuchten Untergrund riechen. Sonnenflecken scheinen im Unterholz auf, die Blätter haben schon eine Färbung ins gelbliche hinein. Zwischen ihnen schimmern die Gebäude der Studentenwohnheime und der Institute hindurch.

Wir spazieren hier durch eine sowjetische Utopie der 1950 Jahre. Eine Stadt fern von Moskau, in der Nähe von Nowosibirsk, in der nur Kernphysiker, Genetiker und andere Wissenschaftler mit ihren Familien leben. Sie sind der lokalen Partei nicht unterstellt und verwalten ihr Städtchen selbst. Natürlich sollen ihre Erkenntnisse – so hat es der Erfinder des Projekts Michail Lawrentjew von Anfang an erdacht und auch der Parteiführung in der Hauptstadt verkauft, der Militär- und Energieindustrie zu Gute kommen. Und doch ist es eine ungeahnte Freiheit.

Heute gibt es hier zahlreiche Cafés und Pubs. Uns begegnen auf den Gehwegen Studenten auf Fahrrädern, in ein Buch vertieft auf einer Parkbank oder mit einem Coffee-to-go-Becher von „Traveler`s Coffee“. In einem neuen Teil des Städtchens, dem Technopark, entstehen gerade Institute, in denen Programmierer und Nanotechnologen ihre Projekte entwickeln, es ist ein Inkubator für junge Start-ups. Damals, sagt Konstantin, kamen vor allem junge Wissenschaftler hierher, die in den universitären Strukturen der alten Männer in Moskau keine Entwicklungschancen für ihre Ideen sahen. Heute sind sie selber alt geworden und machen es den jungen Leuten ihrerseits schwer.

Aber etwas Utopisches bleibt. Es gibt ein Amphitheater, in dem die Bewohner Vorträge aus allen möglichen kulturellen Themenbereichen hören können. An den Abenden finden in den Pubs wissenschaftliche Kabaretts und Science Slams statt. Man muss aufpassen, was man auf der Straße sagt, denn die Leute sind mit hoher Wahrscheinlichkeit intelligenter als man selbst – eine ergraute Dame oder ein an einem Stock gehender älterer Herr könnten eine führende Kapazität auf dem Gebiet der Teilchenphysik oder für die aussterbenden Sprachen und Religionen der Ureinwohner Sibiriens gewesen sein.

Und dann gibt es hier, wie Konstantin erzählt, Schattengestalten. Viele Programmierer haben Verträge mit Firmen aus Kalifornien, sie arbeiten nachts, tagsüber schlafen sie. Sie zahlen weder Steuern noch sind sie krankenversichert – ihr Geld und sie selbst tauchen nur auf, wenn sie im „Traveler`s Coffee“ einen Cappuccino kaufen. Auch leben hier vergessene Helden. Diese Männer und Frauen protestierten gegen das Vorgehen der Sowjetunion während des Prager Frühlings 1968 und verloren ihre Stellen und die Parteizugehörigkeit. Kurz wurden sie Anfang der 90er gefeiert. Interessiert sich heute jemand für sie?

Im Zug nach Akademgorodok sprachen wir über die Ergebnisse der Duma-Wahl vom Wochenende, und Konstantin wirkte besorgt, weil die Opposition jetzt endgültig ausgeschaltet sei. Politische Veränderungen zeigen sich stets auch in der Architektur, sagt er. Wir halten vor einem neu gebauten Gebäude, in dem Vorlesungen stattfinden. Es hat einen zentralen Turm aus Glas mit einer goldenen Spitze für die Büros des Dekans und der Administration sowie zwei davon abgetrennte niedrige Seitenflügel, in denen sich die Vorlesungssäle befinden. Die Professoren und die Studenten sind in unterschiedlichen Gebäudeteilen, begegnen sich anders als in den Institutsgebäuden aus den 60ern auf den Fluren nicht. Der Dekan kann sogar, sagt Konstantin, vor den Eingang des Turms vorfahren und muss auch auf den Gehwegen mit keinem Studenten sprechen, wenn er nicht will.

Es ist natürlich die Frage, was der Dekan will.

Die große Natur
Es ist Nacht vor meinem Fenster, in der Ferne leuchtet der Himmel über den Wolkenkratzern gelblich, als trüge dort am Horizont ein Sturm Sandwolken vor sich her. Die Steppe, die aufsteigt und auf die Stadt zurollt. Blitze sind dort zu sehen. Aber vor meinem Fenster ist es still, kein Donner folgt, nur die Geräusche der Stadt sind zu hören. Kann ich eines der Fenster für die Nacht offen lassen oder muss ich alle schließen? Vielleicht zieht der Sturm an der Stadt vorbei. Ich habe keine Erfahrung mit den Gewittern hier, und für einen Moment bin ich einer urwüchsigen Angst ausgesetzt. Aber am nächsten Morgen wache ich auf, und alle Fenster sind intakt. Und nur die Straßen unter meinem Fenster sind noch etwas nass.

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