Abdulla Sher
Meine „Deutschlandkunde“

Meine Beziehung zu Deutschland unterscheidet sich von der anderer Leute… sie hat einerseits schwere Erlebnisse, aber andererseits geistliche Impulse und fröhliche Momente.

Ich bin auf dem Land aufgewachsen, ging in der Nachkriegszeit zur Schule. Fremdsprachen lernten wir keine. Und die russische Sprache nahmen wir nicht sonderlich ernst. Ende der 50-er Jahre interessierte ich mich für Poesie, begann, Gedichte zu schreiben. Zuerst lernte ich einige Gedichte von Heinrich Heine in der Übersetzung unseres bekannten Poeten Mirtemir kennen. Sie gefielen mir. Ich begann, mich ernsthaft mit der russischen Sprache auseinanderzusetzen, um Heines Werke in der russischen Übersetzung lesen zu können. Und so kam es, dass ich im Januar des Jahres 1961 (ich erinnere mich noch sehr gut daran) gleich zwei Gedichte von Heine aus dem Russischen ins Usbekische übersetzte. Das waren Gedichte aus der Sammlung „Neuer Frühling“. Mein Russisch war schlecht, aber Heine verstand ich. Es war erstaunlich. Zwei Jahrzehnte später, als ich die Originale dieser Gedichte noch einmal ins Usbekische übersetzte, musste ich kaum etwas ändern.

1962 wurde ich in die Armee einberufen. Zuerst nach Frankfurt (Oder), dann wurde ich in Hohenheim stationiert, 30 km entfernt von der Stadt Finsterwalde. Der Dienst war sehr hart, er trieb mir jegliche Poesie aus. Als ich 1965 aus der Armee zurückkehrte, schrieb ich mich in der Universität ein. Aber erst ein Jahr nach Beginn des Studiums zog es mich wieder zur Poesie. Es war, als würde ich wieder verliebt neben Heine hergehen, Amalia und Teresa waren für mich die schönsten Mädchen der Welt. Erneut erfasste mich der Geist der deutschen Romantik. Gedanklich lebte ich in Deutschland, genauer gesagt, Deutschland lebte in mir, beseelte mich. Nach Beendigung des zweijährigen Literaturstudiums in Moskau (1979-81) beschloss ich, die deutsche Sprache selbstständig zu lernen und Ende der 80-er Jahre übersetzte ich Heine aus dem Original. Mein derzeitiger Aufenthalt in Deutschland ist das Ergebnis meines dritten Anlaufs. Den ersten Versuch machte ich im Jahr 1974. Ich erhielt einen Anruf aus dem Zentralkomitee des usbekischen Komsomols mit dem Vorschlag, als Mitglied einer Jugenddelegation im Rahmen des Kulturaustauschprogramms nach Deutschland zu fahren. Doch kurz vor der Abreise teilte man mir mit, ich sei ein Feind der Sowjetunion und deshalb als Gefahr eingestuft worden. Die Anschuldigung kam von einem bekannten usbekischen Dichter, einem Altersgenossen. Und so blieb mein neuer Reisepass unbenutzt. Den zweiten Versuch machte ich im Jahr 1994. Ich arbeitete damals als Dozent an der philosophischen Fakultät der Nationalen Universität Usbekistans und galt als Experte der deutschen Ästhetik, Ethik und Philosophie. Der DAAD lud mich ein, im Institut für Philosophie der Frankfurter Goethe-Universität zur sechsmonatigen Gastdozentur und damals leitete Frau Brigitte Scheer den Lehrstuhl für Ästhetik. Meine Freunde witzelten, Abdulla Sher hätte eine Verwandte in Deutschland gefunden. Kurz vor der Abreise entschloss ich mich jedoch, nicht zu fahren. Nur wenige haben diese Entscheidung verstanden. Mein ganzes Leben lang hatte ich von der Unabhängigkeit meiner Heimat geträumt und dafür gekämpft. Konnte ich sie dann jetzt, wo sie zwar frei, aber sehr schwach war, einfach so verlassen? Pflichtschuldig blieb ich da. Deutschland lebte jedoch in meinen romantischen Gedanken und in Form meiner Heine-Übersetzungen fort.

Seit dem 01.03.2017 bin ich nun wieder in Deutschland. Und mir sind sofort einige Veränderungen aufgefallen, die mich sehr erstaunt haben. Als ich vor 54 Jahren hier war, spürte ich permanent die hasserfüllten Blicke der Älteren und das Misstrauen der jungen Leute. Jetzt sind die Deutschen, die mir ein halbes Jahrhundert zuvor noch so unfreundlich, schweigsam und gleichförmig vorkamen, so gutmütig, freundlich, hilfsbereit und vielfältig, dass ich es kaum in Worte fassen kann. Berlin erschien mir wie eine Weltstadt, international, aber mit einer gemeinsamen Sprache – Deutsch.

Die Berliner und Potsdamer Sehenswürdigkeiten sowie das Treffen mit meinen Kollegen, Schriftstellern und Herausgebern, haben bei mir einen tiefen Eindruck hinterlassen, der mich zu Gedichten über Deutschland inspiriert.

Ich habe jedoch auch andere Veränderungen bemerkt: Von der deutschen Sauberkeit, die ich ein halbes Jahrhundert zuvor gesehen habe, ist an den öffentlichen Plätzen Berlins nichts geblieben. Und in dem großen Buchladen am Potsdamer Bahnhof gibt es keine Rubrik für Gedichte mehr. Es scheint mir, als seien die Deutschen ein wenig östlich geworden und hätten sich von der Poesie entfernt.

Aber diese Mängel (wenn man sie wirklich Mängel nennen kann) sind nichts im Vergleich zu den positiven Veränderungen. Mein aktueller Aufenthalt in Deutschland hat mich inspiriert. Die Sache ist die, dass die Redaktion der monatlich erscheinenden usbekischen Literaturzeitschrift „Zhachon adabiyoti“ (zu Deutsch: Weltliteratur) mich vor einem Jahr gebeten hat, das „Nibelungenlied“ zu übersetzen. Damals reagierte ich ausweichend. Vor meiner Abreise aus Taschkent erinnerte mich dann der Chefredakteur der Zeitschrift daran. Und auch dieses Mal gab ich ihm keine endgültige Antwort. Schließlich ist es eine Menge Arbeit. Man muss alles berücksichtigen: das eigene Alter, die Vorbereitung einer eigenen Werkesammlung usw. Aber jetzt, ein paar Tage nach meiner Ankunft in Deutschland, habe ich mich entschlossen, dieses großartige Epos zu übersetzen. Ich möchte Siegfried mit Worten der usbekischen Sprache zum Leben erwecken, wie es damals Wagner mit Hilfe von Noten getan hat. Und ich habe noch mehr Pläne. All diese Bemühungen verdanke ich dem Goethe-Institut, das immer bestrebt ist, die Schaffenskraft der usbekischen Schriftsteller und Übersetzer zu fördern und ihr Potential auszuschöpfen sowie die Beziehungen zwischen Usbekistan und der großartigen Kultur des früheren und heutigen Deutschlands zu stärken. Danke, Goethe-Institut!

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