03.05.2019 | Agnes Heller
In vieler Hinsicht sind sie neue Akteure. Aber sind sie „Populisten“?


Liebe Freund*innen,

ich habe ein Problem mit dem Ausdruck „Populismus“. Perón war ein Populist, und Chávez ebenso. Doch Orbán und seine Gefolgschaft sind keine Populisten. Populisten sind zwar Demagogen, stehen aber tatsächlich auf Seiten des Volkes und nicht der Wohlhabenden. Einige totalitäre Parteien Europas waren auch populistisch, jedoch nur anfangs. Im Gegensatz dazu haben Orbán und seine Partei eine eigene Oligarchie geschaffen, die „Neureichen“, deren Wohlstand ihnen gänzlich selbst zugutekommt, während die Kluft zwischen Arm und Reich immer größer wird. Ich würde stattdessen eher von einer Art Refeudalisierung sprechen. Diese ethnonationalistischen Parteien behaupten nicht einmal, das „Volk“ zu unterstützen; sie unterstützen die „Nation“. Sie nehmen für sich in Anspruch, die Nation gegen all deren Feinde wie Soros, Brüssel und vor allem natürlich gegen den Liberalismus zu verteidigen. Den Liberalismus zum Feind Nummer eins zu erklären, ist beileibe nichts Neues. Das haben die Ethnonationalisten mit totalitären Parteien gemein. Und dennoch sind sie nicht totalitär, weil sie es gar nicht nötig haben.

Populismus oder Ethnonationalismus?

Populismus
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Dementsprechend ist ihre Identitätspolitik ethnonationalistisch. Für Ethnonationalisten setzt sich die „Nation“ im Gegensatz zu Aristoteles nicht aus der Summe ihrer Bürger*innen zusammen, sondern aus all jenen, deren Vorfahren aus dem betreffenden Land stammen, die von gleichem „Blut“ sind und sich einem Land zugehörig fühlen, in dem sie vielleicht nie gelebt haben. Etwa so wie die „Volksdeutschen“, die nie in Deutschland ansässig waren, selbst nicht in der Eltern- und Großelterngeneration, aber von denen man dennoch verlangte, ihre Treue zu Deutschland anstatt zu dem Land zu bekunden, in dem sie beheimatet waren. In den Augen der politischen Führungselite Ungarns zählt die Anhängerschaft der Oppositionsparteien nicht zu den Ungarn. Menschen hingegen, die nie in Ungarn gewohnt haben, doch ungarischer Herkunft sind, gelten als wahre Ungarn, vorausgesetzt, sie sind Befürworter Viktor Orbáns. Ethnonationalismus kann leicht in offenen Rassismus umschlagen.

Seit 1914 ist der Ethnonationalismus eine verbreitete Ideologie in Europa und war der eigentliche ideologische Beweggrund für den Ersten Weltkrieg. Europa bezahlte für diesen Krieg mit Hundertmillionen Toten, alle Europäer, die durch die Hand von Miteuropäern starben.

Tatsächlich unterscheiden sich die neuen Ethnonationalisten von heute von denen in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts dahingehend, dass ihre Ideologie negativ ist. Sie versprechen keinen Landgewinn, keine Gesellschaft, die frei von Fremden ist, nicht Glück für alle oder gar Größe und Erhabenheit. Sie versprechen Schutz. Sie geben vor, ihre Nation vor Einwanderern, vor der Einmischung anderer in die Innenpolitik und der vermuteten Einschränkung der nationalstaatlichen Souveränität seitens der EU zu bewahren. Sie errichten Mauern nicht nur gegen Einwanderer, wie sie glauben machen wollen, sondern gegen alle anderen EU-Staaten, die nicht mit ihnen übereinstimmen.

Neue Parteien entstehen aus dem Nichts und repräsentieren keine Individuen mehr, sondern nach eigenem Verständnis „die Nation“, die sie verteidigen.

Wie ich vorher erwähnte, ist der größte Gegner der Ethnonationalisten der Liberalismus. Daher schaffen sie, sobald sie an die Macht gelangen, die Gewaltenteilung ab, zentralisieren alle entscheidungsgebenden Organe sowie die Medien und die Bildung und richten Institutionen ein, mit denen sie die öffentliche Meinung manipulieren (etwa durch die sogenannten „Nationalen Konsultationen“ in Ungarn). Damit können sie eine Diktatur errichten, ohne auf die Waffen des Totalitarismus zurückgreifen zu müssen. Dazu sind sie in der Lage, weil sie die Macht nicht durch Gewalt, sondern durch Parlamentswahlen erlangt haben – zwar keine sauberen, aber dennoch Wahlen. Sie werden gewählt und wiedergewählt, dreimal, fünfmal, wie Putin, Erdogan, Kaczyński, Sisi und Orbán. Alle halten ihre Präsidentschaft für demokratisch, da sie ja von einer Mehrheit oder nahezu einer Mehrheit gewählt wurden. Lässt sich das abstreiten? Auf der Suche nach einer Bezeichnung für diese Regierungsform kam mir der Ausdruck „Demokratur“ in den Sinn. Das Wort allein ist ein Indiz dafür, dass der Begriff „Demokratie“ überdacht werden muss.

Demokratie wurde in der europäischen Geschichte mehrfach umdefiniert. Ursprünglich bezog er sich auf eine direkte Demokratie nach Athener Muster. Kant zufolge war diese Demokratieform nicht länger möglich, weil die Staaten zu groß waren und man sich nicht an einem Ort zur gemeinsamen Entscheidungsfindung versammeln konnte.

In den USA entstand die erste moderne Demokratie, die repräsentative Demokratie, die nur durch die Verabschiedung des Ersten Zusatzartikels zur Verfassung der Vereinigten Staaten zu einer liberalen Demokratie wurde. Dennoch vergingen viele Jahre bis zur Einführung des allgemeinen Wahlrechts. Im neunzehnten und vor allem in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts wurde Demokratie im Westen und später auch in Südeuropa jahrzehntelang mit einem Liberalismus gleichgesetzt, der Volkssouveränität und ein allgemeines Wahlrecht einschloss. Eine Zeitlang bedeutete der Begriff „Demokratie“ Volkssouveränität durch allgemeines Wahlrecht, Gewaltenteilung und verfassungsrechtlich gewährleistete Rechte. Nun erleben wir eine neue Metamorphose des Demokratieverständnisses.

Was ist geschehen? Kurz gesagt hat sich die Klassengesellschaft in eine Massengesellschaft gewandelt. Da es keine Klassen (und somit kein Klassenbewusstsein) mehr gibt, ist das Volk zu einer „Masse“ geworden. Traditionsparteien, Konservative wie Sozialisten, verlieren ihre Wählerschaft. Neue Parteien entstehen aus dem Nichts und repräsentieren keine Individuen mehr, sondern nach eigenem Verständnis „die Nation“, die sie verteidigen. Sie gewinnen Wählerstimmen durch negative Ideologien. Negative Ideologien sind Ausdrucksformen des Nihilismus. Und sie sind gefährlich.

Über diese Gefahr möchte ich in meinem nächsten Brief sprechen. Aber zunächst freue ich mich über Kommentare zu meinen Ansichten, Zweifeln und insbesondere kritischen Anmerkungen.
 
Ágnes Heller

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