Körper, Seele, Erbe: hiervon erzählen die Filme bei BLICK '20

© Gebrueder Beetz Filmproduktion
© Gebrueder Beetz Filmproduktion

Von Ksenia Reutova

Die Handlung in Uli Gaulkes Film „Sunset Over Hollywood“ spielt in einem ungewöhnlichen Altersheim. Vor vielen Jahren war es von Stars der „Sündenfabrik“ für Kolleg*innen aus der Filmindustrie gegründet worden. Menschen, die ihr Leben dem Film gewidmet hatten, sollten nach dem Ende ihrer Karriere ein Leben ohne Entbehrungen und Einsamkeit führen können. Die märchenhafte „Hollywood-Pension“ steht nicht nur Schauspielenden, Regisseur*innen und Produzent*innen offen, sondern auch denen, deren Berufe dem Publikum oft gar nicht geläufig sind: Stuntleuten, Montagetechniker*innen, Komponist*innen und Maskenbildner*innen.
 
Aus den vielfältigen Veranstaltungsangeboten der Heimbewohner*innen interessiert Gaulke vor allem der Drehbuch-Workshop. Hier versuchen sich die kreativen Rentner*innen darin, eine Fortsetzung von „Casablanca“ zu entwerfen – dem klassischen Hollywood-Drama über Liebe und Pflicht mit Ingrid Bergman und Humphrey Bogart in den Hauptrollen. Der Prozess spiegelt dabei das Vorhaben des Regisseurs selbst: denn Gaulke erzählt die Geschichte von Menschen, die vom Bildschirm abgetreten und damit zu einem Teil der filmischen Vergangenheit geworden sind. Doch ihr Leben ist damit nicht zu Ende, bis zum Abspann bleibt noch Zeit, und so stellt sich die Frage: warum entzieht sich dieser Teil des menschlichen Seins, das Alter, so zuverlässig dem Blick des Publikums? Warum ist der Film – wie die Populärkultur als Ganzes – so sehr fixiert auf den Kult um Jugend und Schönheit? Und wann haben die Vertreter*innen älterer Generationen aufgehört, interessante Protagonist*innen zu sein?

 
Schneller, höher, älter

 
Die Autor*innen, deren Filme ins Festivalprogramm von BLICK '20 aufgenommen wurden, gehen ganz unterschiedlich mit dem Thema Alter und Altwerden um – aber die von ihnen ausgewählten Figuren stehen selbstbewusst und mit vollem Recht im Vordergrund. Das ist nach wie vor eine Seltenheit im internationalen Film, die Frauen und Männern über 60 üblicherweise „Hintergrundrollen“ als Omas und Opas zuteilt. Die Filme kann man grob in drei Kategorien einteilen: jede von ihnen konzentriert sich auf einen bestimmten Aspekt des Alterns, mit dem Menschen konfrontiert sind, die das dritte oder sogar vierte Lebensalter erreicht haben.
 
Der erste Aspekt ist der körperliche. Der Körper verändert sich nicht unmerklich. Es gibt Zeiten, in denen er stärker altert, was sich auf die Lebensqualität auswirkt. Im Dokumentarfilm „Herbstgold“ des Regisseurs Jan Tenhaven wird die Geschichte von fünf Sportler*innen nachgezeichnet, die sich für die Teilnahme an der Leichtathletik-Weltmeisterschaft der Senioren vorbereiten. Die Protagonist*innen sind zwischen 80 und 100 Jahren alt und damit keine jungen Athlet*innen, sondern Menschen, für die Bewegung eine Notwendigkeit darstellt. Stillstand ist hier gleichzusetzen mit dem Tod. Und dennoch sind die Gründe für den Einlauf in das Stadion unterschiedlich: Man will das eigentliche Alter verbergen, der Sport hilft, eine Krise nach dem Verlust eines geliebten Menschen zu überwinden – oder aber Sport war seit der Kindheit ein fester Bestandteil des Lebens und man fragt sich, warum das im Alter anders sein sollte.
 
Faszinierend ist hier nicht die körperliche Fitness und Form der Protagonist*innen, sondern ihr ungewöhnlicher Eifer. Der Film räumt mit dem Stereotyp auf, dass im Alter die Leidenschaft nachlässt. Denn egal wie alt ein*e Sportler*in ist, der Wunsch nach dem Sieg ist immer noch ungebrochen – welchen Sinn hätte es sonst, an Wettkämpfen teilzunehmen? Eine der Protagonist*innen, die charismatische Italienerin Gabre Gabric, beobachtet seufzend ihre Hauptkonkurrentin, die russischsprachige Kanadiern Olga, die im Diskuswerfen fast zwei Meter weiter wirft als sie. In diesem Seufzer liegt nicht nur sportlicher Neid, sondern auch Bewunderung: Gabre versteht sehr gut, was sich hinter solchen Rekorden verbirgt. Der Körper ist für die portraitierten Personen sowohl bester Freund als auch ein verfluchter Feind: Sie sind ihm für seine Kraft dankbar, doch es ist schwer, die Enttäuschung zu verbergen, wenn sich herausstellt, dass die früheren Kräfte schwinden.
 
Vom Körperlichen erzählt auch Carolin Genreiths Debütfilm „Die mit dem Bauch tanzen“. Die Regisseurin portraitiert darin ihre Mutter, Einwohnerin eines kleinen deutschen Städtchens, die einmal im Jahr mit einer Gruppe Gleichgesinnter nach Paris fährt und auf französischen Straßen im Pailletten-Top und flatterndem Rock tanzt. Das östliche Element des Tanzes ist für die Frauen nicht so wichtig, es geht ihnen eher um den Sieg über die Angst vor dem Altern und um die Befreiung von oktroyierten Schönheitsidealen. Die Kontrolle über den Körper ist verbunden mit dem Gefühl, Kontrolle über das eigene Leben zu haben, und die Lust am Tanzen hilft dabei, auch in anderen Dingen Zufriedenheit zu finden. Die Regisseurin, selbst noch keine 30, gesteht zu Beginn des Films die Angst vor dem eigenen Altwerden ein, versteht aber gegen Ende des Films, dass diese Angst unbegründet sein muss, da das Leben ihrer Mutter mit 50 Jahren gerade erst losgeht.

 
Liebe und Unendlichkeit

 
Der zweite Aspekt, der in den Filmen zur Sprache kommt, ist ein emotionaler. Einer der zentralen Filme des Programms, „Die Nacht der Nächte“ von Nesrin und Yasemin Şamdereli, ist eine dokumentarische Analyse von vier Paaren aus unterschiedlichen Ecken der Welt. Die Protagonist*innen haben jeweils mehr als 50 Jahre miteinander verbracht – „bevor der Tod uns scheidet“ ist für sie ein wirklich zutreffender Satz. Umso erstaunlicher ist es zu erfahren, auf welch unterschiedliche Weise diese Bünde zustande kamen.
 
Das Paar aus Indien zum Beispiel heiratete allen Verboten zum Trotz. Die Verliebten gehörten unterschiedlichen Kasten an, und das Maximum an Entgegenkommen, das für die Herkunftsfamilie des Mannes denkbar war, bestand darin, seiner Freundin die offizielle Anerkennung als Geliebte anzubieten (der Protagonistin schießen bei der bloßen Erinnerung daran die Tränen in die Augen). Das schwule Pärchen aus den USA war dazu gezwungen, ein Schlupfloch im Gesetz zu nutzen und zu Vater und Adoptivsohn zu werden, obwohl die beiden Männer fast gleichaltrig sind. Doch es war der einzige Weg, ihre Beziehung zu legalisieren. Mann und Frau aus Deutschland sind typische Vertreter*innen ihrer Generation und bei ihnen hat sich alles so ergeben, wie es für Millionen Europäer*innen gleichen Alters üblich war. Das japanische Paar hat die rührendste und mitreißendste Geschichte: Es wurde nicht gefragt, sondern die Heirat von Verwandten arrangiert, und Gefühle entwickelten sich in dieser Ehe erst mit der Zeit und nach vielen Jahren gegenseitiger Verletzungen.
 
Das Rezept für eine lange Ehe haben die Autorinnen des Films letztlich nicht gefunden. „Die Nacht der Nächte“ widerlegt jedenfalls das bekannte Zitat aus „Anna Karenina“, dass alle glücklichen Familien einander ähnlich seien – das sind sie nicht, und niemand kann erklären, warum sich großartige und bis über beide Ohren ineinander verliebte Menschen schon ein Jahr nach der Hochzeit trennen, während andere wie Seelenverwandte ein halbes Jahrhundert miteinander verbringen. Offensichtlich aber wird, dass mit dem Alter das Verlangen nach Liebe nicht schwindet und dass man sich von der Vorstellung verabschieden sollte, Liebe und Gefühle seien mit dem Alter passé.
 
Mit dem Thema Liebe beschäftigt sich ein deutscher Filmemacher bereits seit langem. Schon 2008 kam Andreas Dresens Film „Wolke 9“ in die Kinos, in dem die traditionelle Dreiecksbeziehung (Mann, Frau und Liebhaber) von Menschen jenseits der 70 dargestellt wird. Die Ecken des Dreiecks sind hier nicht weniger scharf, aber die Probleme leichter zu lösen. Die nach Maßstäben des internationalen Films betagten Figuren Dresens albern herum, verstecken sich in Büschen, halten Händchen, erzählen einander Witze über 80-Jährige, die Sex haben und ihr Lachen darüber klingt jung und schallend. Der Film ist heute ein moderner Klassiker.
 

Eine Last, die man nicht loswird

 
Der dritte Aspekt ist das Erbe – ein vieldeutiger Begriff. Es geht um den im Laufe eines Lebens angesammelten materiellen Besitz, geistige Errungenschaften wie auch die Fracht an Fehlern, Konflikten und Enttäuschungen der Vergangenheit.
 
Im Film „Mamacita“ macht sich der in Deutschland lebende mexikanische Filmemacher José Pablo Estrada Torrescano in seine Heimat auf, um das vor langer Zeit gegebene Versprechen einzulösen, einen Film über seine fast 100-jährige Großmutter zu drehen – eine Frau mit einem erstaunlichen Leben. Mamacita ist die Matriarchin einer großen lateinamerikanischen Familie, ehemalige Schönheitskönigin und Begründerin eines Beauty-Imperiums, dessen Netzwerk an Gesundheitskliniken sich über das ganze Land erstreckt. Die Protagonistin hat das Unternehmen schon lange in die Hände ihrer Kinder gelegt, und ihr Königreich beschränkt sich nun auf ein teuer eingerichtetes Eigenheim mit vergoldeten Möbeln und gigantischen Portraits der Hausherrin. Torrescano lässt sich auf die Spielregeln ein, die im Haus gelten. Er redet seiner Großmutter nach dem Mund, lässt sich auf ihre Allüren ein, lauscht geduldig ihren Beschwerden über die Angestellten und schickt das Publikum parallel auf eine erstaunliche Reise durch die Familiengeschichte und familiäre Traumata, die bis heute auch seine eigene Biografie beeinflussen. In „Mamacita“ ist das Alter wie eine Last, die ein Mensch in den Jahren seiner Existenz ansammelt und die ihn im Alter nicht weniger bedrückt als körperliche Gebrechen.
 
Ein ähnliches Bild zeichnet Regisseur David Sieveking in seinem Film „Vergiss mein nicht“, in der er seine Mutter Gretel Sieveking zur Hauptfigur macht. Nachdem sie durch eine Alzheimer-Erkrankung vieles zu vergessen beginnt, wird ihrem Sohn plötzlich bewusst, wie wenig er im Grunde über sie weiß. Der Film wandelt sich zu einer Rekonstruktion der Familiengeschichte. Mithilfe von Fotografien, Tagebüchern und Interviews zeichnet der Autor das Portrait einer ungewöhnlichen Frau, die Ulrike Meinhof kannte, aktiv an politischen Kämpfen beteiligt war, in einer offenen Beziehung lebte und mit den interessantesten Männern anbandelte.
 
Um materielles Erbe geht es im Film „Der Bauer bleibst du“ von Benedikt Kuby. Seine Hauptfigur ist der 82-jährige Bauer Heinz Wanner, der in den Alpen einen großen landwirtschaftlichen Betrieb besitzt. Seine Familie hat das Land über vier Jahrhunderte hinweg an die nächste Generation weitergegeben, doch nun gibt es keine Erben mehr, denn Heinz hat keine Nachkommen. Daher ist der Tiroler Eigenbrötler gezwungen, sich selbst einen Nachfolger zu suchen. Seine Wahl fällt auf einen 20-jährigen Absolventen der Landwirtschaftsschule. Indem er die Vertreter zweier Generationen bildlich einfängt, leuchtet Kuby eine Vielzahl auf den ersten Blick nicht offensichtlicher Unterschiede aus. Es geht nicht nur darum, dass der eine Fältchen hat und der andere nicht: die größte Differenz liegt in der unterschiedlichen Wahrnehmung von Zeit, die für den betagten Heinz und den jungen Johannes unterschiedlich schnell verrinnt. Eine gemeinsame Sprache finden sie aber trotzdem, und das ist eine der Besonderheiten der Filme des Festivalprogramms von BLICK '20: sie beschreiben Alter und Jugend nicht als Gegenspieler, sondern als untrennbar miteinander verbundene Abschnitte ein und derselben Linie – des menschlichen Lebens.

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