​Die außerirdischen Siedlungen der Menschheit

Die außerirdischen Siedlungen der Menschheit | Andrej Kusnezow, Wjatscheslaw Misin, 1989
© Archiv von W. J. Misin

Die außerirdischen Siedlungen der Menschheit, Andrej Kusnezow, Wjatscheslaw Misin, 1989

Das Projekt der außerirdischen Siedlungen der Menschheit ist eine ironische, quasireligiöse Exaltiertheit der Haltung gegenüber Technik und Kosmos, die für die sowjetische Gesellschaft typisch war. Aus Gewohnheit setzte es sich in den 1980er-Jahren fort, Ideen für Fortschritt, Gesellschaftsumgestaltung und Eroberung des Kosmos zu manifestieren, die jedoch an der konventionellen Zielsetzung scheiterten.

Das Projekt dokumentiert die berufliche Auflösung der Gruppe der visionären Architekt*innen und ein Ende der Existenz von „Aurora“, des ersten privaten Architekturbüros in Nowosibirsk, das in den Siedlungen der Region Nowosibirsk die Gestaltung öffentlicher Räume und Innenausstattungen von öffentlichen Gebäuden – Krankenhäuser und Mensen – in einem neuen Avantgarde-Stil durchführte. „Aurora“ findet für sich keinen Platz mehr: Es wird aus dem vielversprechenden Markt der freien, privaten Planungsbüros verdrängt. Das Projekt setzt eine eskapistische Tendenz fort, die für die gesamte visionäre Architektur in Nowosibirsk gilt – der Wechsel in den Bereich des mentalen und zugleich antiintellektuellen Planens. Ins Weltall also, das es noch zu erobern gilt – aber die Bereitschaft dafür fehlt. „Die Architektur sollte als ein neutrales, für eine undifferenzierte Nutzung zugängliches System und nicht als Mittel für die Organisation der Gesellschaft betrachtet werden; als ein freies, gut ausgestattetes Gebiet, wo man spontane Experimente mit einer persönlichen oder gemeinschaftlichen Wohnstätte durchführen könnte.“ Der formalistische Ansatz des Planens und die offenbar „blöde“ Bauweise von grundsätzlich variablen Bauobjekten auf einem unbekannten Planeten sind dem einheitlichen, sachlichen und kostengünstigen Planungsansatz in der sowjetischen Architektur gegenübergestellt.
 

  • Die außerirdischen Siedlungen der Menschheit | А. А. Kusnezow, W. J. Misin, 1989 © Archiv von J. I. Awwakumow

    Die außerirdischen Siedlungen der Menschheit | А. А. Kusnezow, W. J. Misin, 1989

  • Gans: Bebauung der Siedlung Guselnikow, erste Variante | А. А. Tschernow, 1984. © Archiv von А. А. Kusnezow

    Gans: Bebauung der Siedlung Guselnikow, erste Variante | А. А. Tschernow, 1984.

  • Parkstadt | А. А. Kusnezow, W. J. Misin, J. Burow, W. I. Kan, 1987 © Archiv von А. А. Kusnezow

    Parkstadt | А. А. Kusnezow, W. J. Misin, J. Burow, W. I. Kan, 1987

  • Mehrere Häuser mit einer modernen technischen Ausstattung | А. А. Kusnezow, 1989 © Archiv von А. А. Kusnezow

    Mehrere Häuser mit einer modernen technischen Ausstattung | А. А. Kusnezow, 1989

  • Staatliches Ziolkowski-Museum für Raumfahrtgeschichte | W. J. Misin, 1990 © Archiv von J. I. Awwakumow

    Staatliches Ziolkowski-Museum für Raumfahrtgeschichte | W. J. Misin, 1990

  • Staatliches Ziolkowski-Museum für Raumfahrtgeschichte, Innenausstattung | W. J. Misin, 1990 © Archiv von J. I. Awwakumow

    Staatliches Ziolkowski-Museum für Raumfahrtgeschichte, Innenausstattung | W. J. Misin, 1990



Das Projekt von Andrej Kusnezow und Wjatscheslaw Misin ähnelt offenbar der westlichen postmodernen Architektur – mit den Gruppen Superstudio, Archizoom, Archigram und deren Projekten wie „No-stop City“ oder „Istogrammid’architettura“. Die westlichen Gruppen der Achitekt*innen zeigten ihre kritische Haltung gegenüber Funktionalismus, Rationalismus und Konsum durch ihre Überidentifikation mit der „Gesellschaft des Spektakels“: „Die Superarchitektur ist die Architektur für Superproduktion, Superverbrauch, Supermarkt, Superman und Superbenzin.“ In den Werken der sowjetischen Planenden wird eine existenzielle Spannung erzeugt – durch Verneinung des Sowjetischen tappen diese in die Falle der vollständigen Verneinung. Hinter dem Flug ins All, dem verwirklichten Traum vom sowjetischen Menschen steckt das Diktat der volkstümlichen Architektur mit Verkaufsbuden aus Metall, die als Verkünder des Kapitalismus keine Präfixe wie „Mega-“, „Super-“ und „Kosmo-“ benötigen. „Die Superarchitektur übernimmt die Produktions- und Verbrauchslogik und strebt danach, diese zu entzaubern.“ Der Kosmos wird nicht mehr als Gedankenraum, als Bereich der unbeschränkten Möglichkeiten und endlosen Reisen wahrgenommen, er endet mit einem Popkultur-Kanon und formelhafter Spekulation.

Das Projekt wird von einem Text begleitet, der die Sinnlosigkeit einer Motorrad-Zirkusnummer in einer Kugel mit dem fast erfüllten Traum von der Eroberung interplanetarer Räume und ferner Planeten in eine Reihe stellt: „Durch eine Zirkusnummer mit dem Motorradfahren innerhalb einer Netzkugel wurde ein Fingerzeig gegeben, wie man Probleme einer außerirdischen Siedlung lösen könnte: In der mit einer harten Schale bedeckten Kugel, innerhalb eines robusten Straßennetzes, sitzen Viertel wie unbekannte Tiere, die einander nicht ähnlich sind. Die Kugel dreht sich dabei um viele Achsen, wodurch innen Gravitation entsteht.“

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