Evangelisch-lutherische Kirche in Marx
Von Prof. Dr. Sergey Terekhin, Prof. Dr. Olga Litzenberger
Die heutige Stadt Marx gehörte einst zu den größten deutschen Kolonien in Russland und trug die Namen Katharinenstadt, Baronsk und Marxstadt. Sie ist für die Geschichte der Russlanddeutschen von Bedeutung, weil sie als Handwerkersiedlung, die ursprünglich den Stadtkern bildete, angelegt worden war. Im Jahr 1910 gab es in dem Dorf zehn Werke und Fabriken, 1.600 Wohnhäuser und 29 Straßen, die von neun Petroleumlaternen beleuchtet wurden. Das Dorf besaß neben Saratow die einzige Abwasseranlage im Gouvernement, und an die Telefonzentrale waren 38 Teilnehmer angeschlossen.
Nicht nur die umfangreiche Sammlung des Heimatkundemuseums (Kirova Str. 47) erinnert heute daran, dass die Stadt Marx einst deutsch war. In der Stadt sind zahlreiche einmalige Bauwerke erhalten geblieben, die mit der Geschichte der deutschen Kolonie verbunden sind: das Knabengymnasium aus dem Jahr 1911 (V.I. Lenina Prospekt), die landesständische Schule aus dem Jahr 1910 (Kommunistitscheskaia Str., heute Lyzeum), die Stadtvilla der Familie Sabelfeld (nach 1917 Pädagogische Berufsschule und Krankenhaus, heute Standesamt, Karl-Marx-Str.), das erste landesständische Krankenhaus aus dem Jahr 1906, die Stadtvilla von Kaufmann Kerner, die Kaufmännische Versammlung, die Augenklinik, das Pastorat und viele andere. Die meisten bis heute erhaltenen deutschen Privathäuser und öffentlichen Gebäude tragen Gedenktafeln, die an die Geschichte der jeweiligen Sehenswürdigkeit erinnern.
Im Stadtzentrum befindet sich auf dem Hauptplatz gegenüber von der Stadtverwaltung die evangelische Kirche, das größte Bauwerk in Marx. Die Geschichte der im Jahr 1851 entstandenen Kirche ist recht bemerkenswert. So fand hier am 5. Juni 1930 eine Massenkundgebung gegen ihre Schließung statt. Die Gläubigen stürmten und besetzten das Gebäude, das für den Betriebsklub „Kommunist“ umgebaut worden war, rissen Porträts bolschewistischer Funktionäre von den Wänden, zerschlugen den roten Stern, fielen über den Vorsitzenden der „Vereinigung der kriegerischen Gottlosen“ her, begossen ihn mit Petroleum und wollten ihn bei lebendigem Leibe verbrennen. So groß war ihr Hass auf die Vandalen, die das Kreuz auf der evangelischen Kirche abgesägt, auf dem Glockenturm eine rote Fahne gehisst und neben der Kirche das Transparent „Religion ist das Opium des Volkes“ aufgestellt hatten. Aktive Teilnehmer des Aufstandes wurden Repressalien ausgesetzt, und in der Kirche blieb der Klub.