Wie wird Deutsch gelernt? Mehrsprachigkeit
Mehrsprachigkeit als Start und Ziel

Mehrsprachigkeit als Start und Ziel
Mehrsprachigkeit als Start und Ziel | Illustration: Melih Bilgil

Welchen Einfluss hat es auf das Lernen einer Fremdsprache, wenn der lernende Mensch bereits Kenntnisse in zwei oder mehr Sprachen besitzt? Und welche Folgen hat es für den Fremdsprachenunterricht, wenn die Lernenden Erfahrungen in vielen verschiedenen Sprachen mit in die Klasse bringen? Die Mehrsprachigkeitsforschung gibt auf diese Fragen erste Antworten.

Abstract

Die Zahl der Menschen, die mit zwei oder mehr Sprachen aufwachsen und leben, nimmt weltweit zu. Dies ist vor allem eine Folge wachsender internationaler Verflechtungen und der gestiegenen Mobilität – etwa als Flucht vor Krieg und Hunger, auf der Suche nach Arbeit oder aus anderem Anlass. Zwei- oder Mehrsprachigkeit ist auch in Deutschland eine immer häufigere Bedingung für das Lernen von Sprache. Die Frage, welche Konsequenzen dies für weiteres Sprachenlernen hat, ist vor allem im Kontext der Forschung behandelt worden, die sich auf die Folgen von Migration für Entwicklung, Erziehung und Bildung bezieht. Einige Ergebnisse werden nachfolgend vorgestellt.

In der Forschung über das Lehren und Lernen von Sprachen war es lange Zeit üblich, vom „Normalfall Einsprachigkeit“ auszugehen. Insbesondere in Bildungssystemen, die auf europäische Traditionen zurückgehen, herrscht – vielfach bis heute – die Vorstellung vor, dass junge Menschen „normalerweise“ einsprachig aufwachsen und leben (Gogolin 1994). In diesem Verständnis ist es die Schule, die die erste Begegnung von Kindern mit Zwei- oder Mehrsprachigkeit inszeniert; der Ort dafür ist der Fremdsprachenunterricht. Damit verbindet sich die Vorstellung, dass kontrolliert werden kann, auf welche Weise und in welchen Ausschnitten die Lernenden eine neue Sprache kennenlernen.

Als Ausnahme von dieser „Normalität“ galt das Konzept der „Bilingualität“. Grundlage war der Gedanke, dass ein Mensch einer sprachlichen Minderheit angehört, etwa der sorbischen Minderheit in Sachsen oder Brandenburg. Eine andere Leitidee war die der „bilingualen Familie“, in der die Mutter eine andere Herkunftssprache besitzt als der Vater, und beide ihre Sprachen an die Kinder weitergeben.

Diese Vorstellungen von „Normalität“ und „Ausnahme“ sind von der Wirklichkeit überholt worden. Die mitgebrachten Sprachen von Migranten vervielfältigen die Sprachenkonstellation in allen Einwanderungsländern, so auch in Deutschland. Obgleich die offiziellen Statistiken keine Angaben hierzu enthalten, ist davon auszugehen, dass hierzulande – zumindest in städtischen Regionen – weit mehr als 100 Sprachen neben der Deutschen alltäglich gebraucht werden (Gogolin 2010).

Damit wird Mehrsprachigkeit in zweierlei Hinsicht zu einer grundlegenden Voraussetzung für das Lehren und Lernen von Sprachen. Denn die tägliche „ungesteuerte“ Erfahrung mit zwei oder mehr Sprachen verändert die individuellen Voraussetzungen für das Lernen. Und die zunehmend heterogene sprachliche Komposition der Schülerschaft macht Rücksichtnahme auf die unterschiedlichen Spracherfahrungen in Lerngruppen erforderlich.

Wissen über Sprache ALS MEHRSPRACHIGKEITSVorteil

Über die Frage, ob Zwei- oder Mehrsprachigkeit als Bildungsvoraussetzung von Vorteil oder von Nachteil für zusätzlichen Spracherwerb und die schulische Karriere ist, wird in der Forschung durchaus gestritten (Gogolin, Neumann 2009). Allerdings besteht Einigkeit darüber, dass das Leben in mehr als einer Sprache Einflüsse auf das Lernen nimmt. Jede Erfahrung in einer Sprache beeinflusst die Wege und Ergebnisse beim Erlernen der nächsten.

Konsens gibt es insbesondere darüber, dass Zwei- oder Mehrsprachigkeit Vorteile auf der kognitiven Ebene mit sich bringt. Erklärlich ist dies durch den Umstand, dass Menschen, die die Wahl zwischen Sprachen haben, sich zugleich permanent für die Sprache entscheiden müssen, die sie verwenden wollen. Dabei müssen Sprechende vor allem stets einschätzen, ob die verwendete Sprache vom Gesprächspartner auch verstanden wird. Dies führt zu einem permanenten Training kognitiver Fähigkeiten im Bereich des Wissens über Sprache.

Empirisch gesichert ist, dass zwei- oder mehrsprachig lebende Kinder viel früher und besser in der Lage sind, zwischen der Form von Äußerungen und ihrem Sinn zu unterscheiden (Barac, Bialystok 2012). Eine gut trainierte Grundfähigkeit der „kognitiven Kontrolle“ aber ist für das Lernen von Sprachen wie für das Lernen generell von großem Nutzen. Auf der Seite der individuellen Voraussetzungen kann also mit Vorteilen der Mehrsprachigkeit für das Lernen von Sprachen gerechnet werden.
 
 

DAS VIELSPRACHIGE KLASSENZIMMER

Fremdsprachliches Lehren und Lernen im traditionellen Sinne bezieht sich in der Regel auf eine allen Lernenden gemeinsame Referenzsprache, von der angenommen wird, dass sie „muttersprachlich“ beherrscht wird. Diese Voraussetzung ist aber heute in vielen Schulklassen nicht mehr gegeben. Zwar kann immer noch angenommen werden, dass alle Lernenden an deutschen Schulen auch Erfahrungen mit dem Deutschen gemacht haben. Diese aber können sehr unterschiedlich ausgeprägt sein, so dass sie beim Lernen nicht wie „muttersprachliche“ Kenntnisse funktionieren.

Die Forschung zum Lehren und Lernen von Sprachen hat die Folgen solcher veränderten Konstellationen noch kaum in den Blick genommen (Little et al. 2014). Zu den wenigen Untersuchungen, die möglichen Auswirkungen der sprachlichen Komposition von Lerngruppen auf das Fremdsprachenlernen auf die Spur kommen, gehört die Studie DESI – Deutsch-Englisch Schülerleistungen International. Sie ergab, dass Schülerinnen und Schüler, die bereits eine mehrsprachige Erfahrung in den Unterricht mitbringen, potenziell Vorteile für das Erlernen der fremden Sprache besitzen (Göbel et al. 2011). Allerdings scheint es ausdrücklicher didaktischer und methodischer Anstrengungen zu bedürfen, damit solche Vorteile tatsächlich zum Tragen kommen – und insbesondere damit sie sich positiv auf die Sprachlernerfolge aller Mitglieder der Lerngruppen auswirken können.

Erste empirische Überprüfungen weisen darauf hin, dass es für den Fremdsprachenunterricht fruchtbar ist, wenn Schülerinnen und Schüler ausdrücklich dazu angeleitet werden, ihre verschiedenen Spracherfahrungen aktiv einzubringen. Förderlich erscheint dies insbesondere, wenn es darum geht, sprachliche Phänomene zu begreifen. Dies gilt für Wörter und ihr Bedeutungsspektrum ebenso wie für die Funktionen grammatischer Mittel, Zusammenhänge zwischen Laut- und Schriftzeichen oder für Bilder, die durch Sprichwörter und Redewendungen hervorgerufen werden (Sierens, van Avermaet 2014). Der Unterricht aktiviert und systematisiert hier also die durch Zwei- oder Mehrsprachigkeit geschulten metasprachlichen Fähigkeiten. Und er fördert den zielgerichteten Transfer zwischen Sprachen, also die Kompetenz, etwas in einer Sprache bereits Gelerntes sinnvoll und systematisch auf die neue Sprache zu übertragen.

Didaktische Ansätze, die dies nutzen, gibt es bereits. Sie orientieren sich allerdings vor allem darauf, metasprachliches Wissen aus Merkmalen der Zielsprachen abzuleiten (Hufeisen, Marx 2007). Vorerst noch Zukunftsmusik hingegen ist die systematische Nutzung der unterschiedlichen – überwiegend „ungesteuert“ erworbenen – Spracherfahrungen der zwei- oder mehrsprachigen Lernenden selbst als Quelle für das Lernen einer Fremdsprache.
 

Literatur

Barac, Raluca; Bialystok, Ellen: “Bilingual effects on cognitive and linguistic development. Role of language, cultural background, and education.” Child Development 83 (2) 2012, 413-422.

Göbel, Kerstin; Rauch, Dominique; Vieluf, Svenja: „Leistungsbedingungen und Leistungsergebnisse von Schülerinnen und Schülern türkischer, russischer und polnischer Herkunftssprachen.“ Zeitschrift für Interkulturellen Fremdsprachenunterricht 16 (2) 2011, 50-65.

Gogolin, Ingrid: Der monolinguale Habitus der multilingualen Schule. Münster u.a.: Waxmann 1994.

Gogolin, Ingrid: „Stichwort. Mehrsprachigkeit.“ Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 13 (4) 2010, 529-547.

Gogolin, Ingrid; Neumann, Ursula (Hrsg.): Streitfall Zweisprachigkeit. The Bilingualism Controversy. Wiesbaden: VS-Verlag 2009.

Hufeisen, Britta; Marx, Nicole (Hrsg.): EuroComGerm – Die sieben Siebe. Germanische Sprachen lesen lernen. Aachen: Shaker 2007.

Little, David; Leung, Constant; van Avermaet, Piet (Hrsg.): Managing diversity in education. Languages, policies, pedagogics. Bristol: Multilingual Matters Ltd. 2014.

Sierens, Sven; van Avermaet, Piet: “Language diversity in education: evolving from multilingual education to functional multilingual learning.” In: David Little, Constant Leung; Piet van Avermaet (Hrsg.): Managing diversity in education. Languages, policies, pedagogics. Bristol: Multilingual Matters Ltd 2014, 204-222.

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