Die Kulturszene in Libyen
Raum zum Atmen

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Foto: Zayene Bechir © Goethe-Institut

Trotz der prekären Sicherheitslage in Libyen versuchen Kulturschaffende weiterhin, Projekte vor Ort fortzuführen. Die Medienkorrespondentin und Ausbilderin Sarah Mersch spricht mit den Architekten und Gründern Reem Alfurjani und Zuhair Abusrewil über die sich ihnen stellenden Herausforderungen. Das Goethe-Institut in Tunis unterstützt beide im Rahmen der vom Auswärtigen Amt geförderten Transformationspartnerschaften. Auskunft gibt die Leiterin Andrea Jacob.

Von Sarah Mersch

Sarah Mersch: Wodurch zeichnet sich die libysche Kulturszene derzeit aus?

Reem Alfurjani: Die Szene ändert sich dauernd. Obwohl aktuell nicht viel passiert, bietet die Kultur den Menschen noch immer einen gewissen Freiraum. Sie bringt ganz unterschiedliche Menschen zusammen: Meine Meinung, was Politik oder andere Themen betrifft, spielt keine Rolle. Ebenso wenig, wie ich mich mit anderen auseinandersetze. Entscheidend ist, dass wir beide hier sind und uns auf die Dinge konzentrieren, die wir gemeinsam voranbringen wollen.
Zuhair Abusrewil: Ich glaube, dass sich die Community, zumindest in der Gegend von Tripolis, nach Kultur und künstlerischen Aktivitäten sehnt. Letztes Jahr war viel los, insbesondere als die Lage ruhiger war und man sich sicherer fühlte. Manchmal hatten wir drei, vier oder fünf Veranstaltungen an einem Tag. Aber seit es wieder Auseinandersetzungen gibt, läuft nichts mehr.
 
Wie schaffen Sie es, sich angesichts der prekären Sicherheitslage weiterhin für kulturelle Projekte zu engagieren?

Abusrewil:
Das Risiko ist groß, aber einige Projekte laufen weiterhin, und es gibt Leute, die uns unterstützen. Das ist ein sehr gutes Zeichen dafür, dass Kultur, wie Reem bereits sagte, den Menschen weiterhin einen gewissen Freiraum lässt.
Alfurjani: Ich arbeite seit Dezember 2011, aber jetzt hat es fast völlig aufgehört. Vorher gab es so viele Aktionen, aber jetzt höre ich, abgesehen von Ausstellungen in Kunstgalerien, kaum noch von Events. Früher haben wir mit »Scene« (Anm. d. R.: »Scene« ist ein Projekt zum Schutz des kulturellen Erbes mit standortspezifischem Theater in der Altstadt von Tripolis) alle unsere Events an einem öffentlichen Ort in der Altstadt veranstaltet. Heutzutage würden sie drinnen stattfinden.
 
Spiegelt sich in der Kunst die momentane Situation wider? Ist sie ein Thema?

Abusrewil:
Das Thema unserer letzten Ausstellung war sehr weit gefasst; die einzige Bedingung war, dass es etwas mit Libyen zu tun haben sollte. Jeder konnte seine eigenen Gedanken zum Ausdruck bringen, sei es im Bereich Architektur, Fotografie, Grafik oder Illustration. Der Titel war: »Schönheit ist allgegenwärtig. Aber nur, wenn wir sie auch sehen wollen.« Wir gaben einen architektonisch schönen, öffentlichen Raum vor, der jedoch vernachlässigt und chaotisch war. Die Menschen begannen, sich Gedanken über diesen Raum zu machen und sich vorzustellen, wie schön dieser Raum sein könnte, wenn man bereit wäre, seine Schönheit zu sehen. So hat jeder Künstler und jede Künstlerin eine eigene Botschaft bezüglich der Umgebung oder der Dinge, die er oder sie erlebt.
Alfurjani: Ich kenne Künstlerinnen und Künstler, die als Antwort auf die politische Situation und den Konflikt im Land Bilder malen, jedoch Angst davor haben, sie der Öffentlichkeit zu präsentieren. Sie zeigen ihre Werke nur bestimmten Freunden. Viele, aber nicht alle, haben Angst. Künstlerinnen und Künstler im Ausland wären eventuell eher bereit, diese Dinge zu teilen.
 
Welches Ziel verfolgt die vom Goethe-Institut ins Leben gerufene Kulturakademie Libyen, ein Qualifizierungsprogramm für libysche Kulturmanagerinnen und -manager, welches vom Auswärtigen Amt finanziert wird?

Andrea Jacob:
Meiner Meinung nach ist es sehr wichtig, dem Land und der Kulturszene dort ein Signal zu geben. Selbst wenn die Situation schwierig ist, sollten die Leute wissen, dass sie nicht allein sind und wir darauf hoffen, dass es wieder Frieden für sie gibt. Es ist nicht sinnvoll, erst dann aktiv zu werden, wenn sich die Lage vor Ort wieder beruhigt hat und wenn Frieden geschlossen wurde. Allein in psychologischer Hinsicht ist es wichtig zu wissen, dass es Menschen in anderen Ländern gibt, die an uns denken und die versuchen, uns zu ermutigen und zu stärken. Das motiviert uns unheimlich.
 
Frau Alfurjani und Herr Abusrewil, Sie haben 2017 und 2018 an dem Programm teilgenommen. Warum haben Sie damals einen Antrag gestellt?

Alfurjani:
Ich knüpfe an das an, was Sie, Frau Jacob, gesagt haben: Es geht darum zu wissen, dass man nicht die Einzige ist, die es versucht. Es war interessant, nach Berlin zu gehen und zu sehen, wie die Geschichte Deutschlands verlaufen ist. Es ist gut zu wissen, dass wir nicht die Einzigen sind, die kämpfen. In Libyen, wo wir zuweilen komplett vom Rest der Welt abgeschnitten sind und wo aufgrund der vielen Stromausfälle sogar eine Internetverbindung zuweilen reiner Luxus ist, haben wir mit den Trainerinnen und Trainern oft keinen direkten Kontakt, das heißt wir können deren Körpersprache nicht sehen und direkt darauf eingehen. Ich kann zwar Dinge im Internet oder auf YouTube recherchieren. Aber es ist etwas ganz anderes, jemanden persönlich zu treffen und sich direkt mit ihm auszutauschen.
Abusrewil: Ich empfinde das ebenso. Die Möglichkeit, während eines sehr intensiven zweiwöchigen Aufenthalts in Tunis und einer Woche in Berlin Wissen zu erwerben, war eine Art Bestätigung. Es motiviert dich, egal, was deine Träume sind und in welchem Entwicklungsstadium du dich gerade befindest. Ohne die Kulturakademie hätte ich das erste Event meiner Kunstplattform »Tilwan« nicht machen können. Ich hatte zwar das Konzept und alles andere fertig, hatte jedoch zwei Jahre lang nichts unternommen. Diese zwei bzw. drei Wochen haben mich dazu ermutigt, das Event zu realisieren. Für mich hat es sich gelohnt.
Alfurjani: Ich arbeite noch immer am »Scene«-Projekt. Ich habe mich 2017 teilweise deswegen beworben, weil ich Schwierigkeiten hatte. Ich suche noch immer nach Lösungen. Ich bin mir der Möglichkeiten bewusst, habe bisher jedoch noch nicht alles erreicht, was auch daran liegt, dass die Lage in Libyen zunehmend komplexer wird. Das wirklich Gute daran war die libysche Community, die ich getroffen habe. Hier sind Zuhair und ich aufeinandergetroffen und haben die gleichen Erfahrungen gemacht. Das bedeutet, dass ich nach meiner Rückkehr nach Libyen jemanden habe, mit dem ich reden und der mir Rat geben kann, weil er weiß, woher die Fragen kommen. Meiner Meinung nach ist die Community, die das Goethe-Institut hervorbringt, etwas sehr Wertvolles.
 
Wie gehen Sie mit den Herausforderungen um, mit denen Sie bei Ihren Projekten konfrontiert sind?

Alfurjani:
Ich gehe noch immer mit ein paar wenigen Freundinnen und Freunden in die Altstadt. Allerdings organisieren wir aufgrund der Sicherheitslage in der Altstadt keine öffentlichen Events mehr. Wir haben unsere Taktik geändert. Ich konzentriere mich auf Forschung und Konferenzen, da ich vor Ort nichts anderes machen kann.
Abusrewil: Aus Sicherheitsgründen haben wir beschlossen, verstärkt auf Kunstlehrerinnen und Kunstlehrer zuzugehen. Wir arbeiten an staatlichen Schulen, wo wir Workshops veranstalten; daneben arbeiten und sammeln wir Daten online, während wir ursprünglich vorhatten, im öffentlichen Raum tätig zu sein.
 
Warum machen Sie trotzdem weiter, auch wenn Ihre Arbeit erheblich von der Sicherheitslage vor Ort bestimmt wird?

Alfurjani:
Als ich ein kleines Kind war, lebte ich in London, wo uns meine Großmutter zu besuchen pflegte. Sie erzählte mir Geschichten über die Altstadt, wo sie aufgewachsen ist, und erklärte mir die Traditionen. Während sie mit mir sprach, trommelte sie mit ihren Fingern einen traditionellen Takt und Rhythmus auf dem Tisch. Damit bin ich aufgewachsen. Als ich dann nach Tripolis zurückkehrte, stellte sich mir die Gesellschaft dort komplett anders dar, als sie sie mir vermittelt hatte. Daher ging ich nach der Revolution 2011 sofort in die Altstadt, wo ich nach ein, zwei Aktionen einen Master-Abschluss machte und nun über die Altstadt promoviere. Alles wegen meiner Großmutter. Diese Geschichte motiviert mich. Ich habe mein bisheriges Leben diesem Thema gewidmet und werde mich auch den Rest meines Lebens und während meiner beruflichen Laufbahn mit dieser einen Sache beschäftigen.
Abusrewil: Wir unterhielten uns einmal mit meinem Professor an der Uni. Er versuchte uns im Rahmen einer Aktion, die Bedeutung von Architektur und Urbanismus zu vermitteln und verwendete dabei komplizierte Wörter, die niemand verstand. Das habe ich ihm gesagt und ihm erklärt, dass er zu viel voraussetzen würde, und die Menschen oft noch nicht einmal die Grundlagen dessen beherrschen, worüber er sprach. Kunst, Musik und Kultur werden an der Schule nicht wirklich gelehrt. Die Schülerinnen und Schüler kennen noch nicht einmal die entsprechenden Grundlagen. Kunstlehrerinnen und -lehrer werden an staatlichen Schulen von den anderen Lehrerinnen und Lehrern regelrecht diskriminiert, da diese Fächer wie Mathematik, Physik oder Chemie als weitaus wichtiger erachten. Daher denken die Kunstlehrerinnen und -lehrer, dass sie weniger wert und weniger wichtig sind als die sogenannten richtigen Lehrerinnen und Lehrer. Darüber kam ich ins Nachdenken. Diese Lehrerinnen und Lehrer brauchen Hilfe, sie brauchen Selbstvertrauen, weil sie eine wichtige Rolle spielen, und sie wissen nicht, wie sie dies bewerkstelligen sollen.
 
Wenn Sie an die Zukunft denken, wo sehen Sie Ihr Projekt in den nächsten fünf bzw. zehn Jahren?

Abusrewil:
Ich mache normalerweise keine so langfristigen Pläne, aber ich glaube, dass wir in fünf Jahren, insbesondere was die Lehrerinnen und Lehrer angeht, erste Ergebnisse sehen dürften. Ich würde mich freuen, wenn sie bis dahin in den staatlichen Schulen neue Lehrmethoden verwenden. Denn im Moment geht es im Zeichenunterricht nur um technische Aspekte. Niemand vermittelt den Schülerinnen und Schülern die Geschichte oder den Gesamtzusammenhang oder versucht, sie für Kunst zu begeistern. Und in fünf Jahren dürfte »Tilwan« eine Organisation sein, die sich über den Verkauf von Kunstwerken und handwerklich gefertigten Gegenständen, bei denen sich traditionelles Handwerk mit modernem Design verbindet, selbst finanzieren kann. Dann können sich junge Leute diese Dinge kaufen und über ihr kulturelles Erbe nachdenken.
Alfurjani: Ich bin die Fachidiotin im Raum. Ich habe eine PDF-Datei und eine PPT-Präsentation, die meinen Plan für die nächsten fünf Jahre sowie die nächsten zehn Jahre enthalten. Ich tendiere in Richtung Forschung und will meine Promotion in den nächsten fünf Jahren abschließen. Falls es die Umstände erlauben, sollte aus dem »Scene«-Projekt bis dahin ein experimentelles Theater und in zehn Jahren eine »Scene«-Kunstschule mit einem Theater und einer Architektur-Abteilung geworden sein.
 
Und wie steht es mit dem Goethe-Institut? Wird es wieder ein Institut in Libyen geben?

Jacob:
Wir hatten ein Institut in Tripolis, in dem Deutsch gelehrt wurde, und in dem sich die Menschen über Deutschland informieren konnten. Es gab kulturelle Veranstaltungen und kulturellen Austausch. Natürlich hoffen wir, dass wir bald wieder dorthin zurückkehren können.


Zuhair Abusrewil ist Journalist, Architekt und Gründer der Kunstplattform »Tilwan«. Reem Alfurjani ist Architektin, Forscherin sowie Gründerin und Geschäftsführerin von »Scene«.
Andrea Jacob leitet das Goethe-Institut in Tunesien und ist derzeitige Vorsitzende des EUNIC-Clusters in Tunis. 

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