Juni 2018
Judith Hermann: Die Kraft des Ungesagten

Judith Hermann: Die Kraft des Unsagten
Cover © Serpent's Tail

Bekannt ist sie vor allem als Schöpferin der reizenden Bewohner_innen des Mumintals, doch in den letzten Jahren wurde Tove Jansson auch für ihre Prosatexte für Erwachsene und v.a. ihre Kurzgeschichten immer beliebter. Geschichten in Erzählbänden wie Das Winterbuch und Reisen mit leichtem Gepäck (wunderbar ins Englische übertragen von Silvester Mazzarella und in deutschen Übersetzungen von Birgitta Kicherer) erhalten für ihre karge und doch atmosphärisch tiefe Sprache endlich die Anerkennung, die sie verdienen. Jansson nutzt die Kraft des Ungesagten: Sie taucht in das Leben ihrer Figuren ein, um einen einzelnen Moment oder ein Ereignis hervorzuholen, ohne dabei in Erklärungen oder lange Zusammenfassungen zu verfallen.

Judith Hermann, bekannt in Deutschland für ihre Erzählungen, hat dieselbe Gabe, das Ungesagte in ihren Texten immer mitschwingen zu lassen. Hermann lässt uns geschickt eintauchen ins Hier und Jetzt ihrer Figuren. Jede Erzählung in ihrer neusten Sammlung, dem schonungslosen, wunderschönen Lettipark, verlangt von der Leserin, sich von Gewissheiten zu befreien. Diese Erzählhaltung findet ihren Höhepunkt in der Erzählung ‚Inseln’, in der die Erzählerin zugibt, dass sie sich an die Details ihrer eigenen Geschichte kaum erinnert:

"Auf diesem Foto sitzen wir vor einem Haus, an das ich mich nicht erinnern kann … Wem gehören die schmutzigen Handtücher auf dem Wäschehaufen neben mir, wem gehören die Sachen auf dem Korbstuhl hinter Martha, diese Hemden, die an der Wäscheleine über uns hängen? Uns gehörten sie nicht … Und wer hat das Foto gemacht, wer hat uns so gesehen."

Das Bild des halb vergessenen Fotos (das das Erzählen in ‚Inseln‘ auslöst) ist sehr passend, denn die Wirkung von Hermanns ruhigem, atmosphärisch tiefem Erzählen spiegelt die Freude und die fremdartige Erfahrung, die man beim Stöbern im Fotoalbum eines Fremden gleichermaßen erlebt. Details und Kontext werden weggelassen, was bleibt ist der Eindruck der Unmittelbarkeit, sowie ein stetiges Bewusstsein der unerzählten Geschichten, die hinter denen stecken, die wir lesen.

Das Herz der Geschichten in Lettipark bildet der Moment der Verbindung zwischen zwei Menschen, gelegentlich auch der Moment in dem diese Verbindung scheitert. Dieser “unwahrscheinliche Funke” ist an den unverhofftesten Orten und Menschen zu finden: In ‚Fetisch‘ starrt „ein kleiner Junge mit struppigen Haaren, in Hochwasserhose und einem Kaputzenpullover, schmutzigen Turnschuhen ohne Schnürsenken“ ernst ins Feuer neben einer Frau, die er gerade erst getroffen hat; in ‚Manche Erinnerungen’ ist eine junge Frau selbst verblüfft, als sie in sich eine Zuneigung für ihre eigenwillige alte Vermieterin entdeckt.

In den letzten Jahren – etwa seit Alice Munro den Nobelpreis und Lydia Davis den Man Booker International Prize gewonnen hat – wächst die Popularität von Kurzgeschichten. Erzählbände von Autor_innen wie Ali Smith und George Saunders landen vermehrt in den Regalen der Buchhandlungen und werden im Feuilleton diskutiert. Trotzdem wird die Gattung noch immer nicht so ernst genommen wie ihre füllige Schwester, der Roman. Egal ob Du schon großer Fan von Kurzgeschichten bist, oder das kürzere Genre gerne mal für Dich ausprobieren möchtest – Lettipark ist in jeder Hinsicht ein fantastisches Buch: Wie Jansson zeigt Hermann, was genau Kurzgeschichten können, welche Potentiale sie haben, was Romane eben nicht vermögen. Ihre Geschichten feiern die Freuden und Absurditäten des Alltäglichen. Diese Erzählungen zeugen von der Kraft des Ungesagten und erinnern uns dabei daran, dass manchmal ein flüchtiger Blick schöner ist, als das große Ganze.

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