Juli 2018
Jenny Erpenbecks Aller Tage Abend: Eine ganze Welt aus Gründen

Jenny Erpenbeck’s The End of Days
Cover © Portobello books

Stets auf den Shortlists der Literaturpreise zu finden und von Buchclubs fleißig besprochen: Kate Atkinsons Roman Die Unvollendete (ins Deutsche übersetzt von Anette Grube) war eines der herausstechendsten Bücher 2013. Fünf Jahre später verblüfft dieses ironische, aufwühlende, hellsichtige Buch immer noch mit einer Geschichte eines vielmals gelebten Lebens.

Der Roman entwirft die vielen möglichen Leben (und Tode) der Ursula Todd, die 1910 in eine gutbürgerliche Familie in einem englischen Dorf geboren wird. Ihre unterschiedlichen Leben werden mit den folgenschweren Ereignissen des 20. Jahrhunderts verknüpft: In mehreren Versionen wird sie Opfer der Spanischen Grippe von 1918, in anderen überlebt sie und arbeitet als Rettungskraft während des Blitzangriffs auf London oder beginnt eine unerwartete Freundschaft mit der berüchtigten Eva Braun.

Ein Jahr vor der Veröffentlichung von Atkinsons Roman erschien ein Buch mit sehr ähnlichem Konzept in Deutschland: Jenny Erpenbecks Aller Tage Abend, das 2014 in englischer Übersetzung von Susan Bernofsky herauskam. Wie Die Unvollendete zeichnet auch Aller Tage Abend die möglichen Leben einer Frau, in diesem Fall ohne Namen, die die Meilensteine des 20. Jahrhunderts eigens erlebt. Aller Tage Abend ist ein bemerkenswertes und aufregendes Buch. Es bietet ein faszinierendes Gegenbild zu Die Unvollendete; beide Bücher fragen nach Schicksal und Zufall, Mitschuld und Widerstand.

Atkinsons Roman nimmt den Zweiten Weltkrieg in den Blick als die Jahre, die alles verändern. Dagegen bietet Aller Tage Abend eine viel weitsichtigere und tiefgreifendere Sicht auf das Jahrhundert. Erpenbecks Protagonistin wird in ihren unterschiedlichen Leben im frühen 20. Jahrhundert in einer kleinen galizischen Stadt geboren, wächst in Wien auf, wandert in Stalins Moskau aus und wird später eine erfolgreiche Schriftstellerin in der DDR. In der ersten Hälfte des Buchs herrschen schmerzvolle Armut und Fremdenfeindlichkeit vor: Nach dem Ersten Weltkrieg erstreckt sich das Schlangestehen für Lebensmittel in Wien über die ganze Nacht, der Schatten des Großvaters, der lange vor der Geburt des Enkelkinds im Pogrom getötet worden ist, prägt nachhaltig das Leben der Familie.

Erpenbecks Protagonistin ist dabei kein passives Opfer. Manchmal fällt es schwer, sie beim Lesen nicht anzufeuern:

„Einmal, als sie nach stundenlangem Warten [bei einem Essensmarkt] leer ausgehen sollte, hatte sie solche Wut empfunden, dass sie die anderen Frauen dazu aufrief, vor das Rathaus zu ziehen, um sich zu beschweren, sie hatte ihr Taschentuch wie eine Fahne in der Luft geschwenkt, und tatsächlich waren ihr, dem damals erst vierzehnjährigen Mädchen, Hunderte verzweifelte Frauen gefolgt.“

Während das Mädchen langsam zur Frau wird, findet bei Erpenbeck auch der Reiz des Kommunismus nach den harten Jahren des Ersten Weltkriegs Platz, die Aufregung des Versprechens einer neuen, besseren Welt.

Kate Atkinson schenkt Ursula ein vages Bewusstsein ihrer alternativen Leben, das es ihr ermöglicht, aus Fehlern zu lernen und diese zu vermeiden. Im Gegensatz dazu setzt Erpenbeck kunstvoll auf die Launen des Zufalls und macht die vielen minutiösen Details aus, die ein Leben verändern können: die Entscheidung an einer Gabelung links statt rechts zu gehen, eine unerwartete Begegnung mit einer alten Freundin im Café. Nach dem Tod der Protagonistin als junge Frau, erinnert sie uns daran, dass jede Wendung ihren Ursprung hat:

„Eine ganze Welt aus Gründen gab es, warum ihr Leben nun an ein Ende gekommen sein könnte, wie es gleichzeitig eine ganze Welt aus Gründen gab, warum sie jetzt noch am Leben sein könnte und sollte.“

Susan Bernofsky hat mehrere Romane von Erpenbeck übersetzt. Den Wechsel zwischen Distanz und Intimität, mit der die Autorin ihre Figuren betrachtet, sowie die musikalischen Effekte durch Wiederholungen überträgt sie ausgezeichnet. Diese Musikalität wird dadurch betont, dass Bruchstücke anderer Texte in die Erzählung eingewebt werden. Besonders markant sind die jüdischen Schriften im ersten Teil, in dem die Hauptfigur als Baby stirbt, und die Geständnisse und Verdächtigungen verschiedener sowjetischer Bürger_innen in den Kapiteln, die in Moskau spielen.

Ich werde nicht lügen: Aller Tage Abend ist keine fröhliche Lektüre und dem Roman fehlt der erlösende Humor, der Die Unvollendete aufheitert. Trotzdem ist es vorzüglich geschrieben: ein bemerkenswertes, notwendiges Buch.


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