November 2018
Vor dem Fest: Die alten Geschichten neu geschrieben

Book cover: Vor dem Fest von Saša Stanišić
Cover © Pushkin Press

Meine allerliebste Autorin ist – keine Frage – die großartige Ali Smith: die Vielfältigkeit und Fülle an Perspektiven, die entstehen, wenn in den Romanen Es hätte mir genauso und Die Zufällige (beide übersetzt von Silvia Morawetz) die Geschichten unterschiedlicher Figuren ineinander verwebt werden; das Aufheben der Grenzen zwischen Fakt und Fiktion in Shire; die Verspieltheit, Lässigkeit und Freude an Sprache, die ihr Werk durchdringen – nur ein paar der Gründe, warum nicht nur ich, sondern auch ihre treue Leserschaft Ali Smiths Texte immer wieder feiert. Es ist also das höchste Kompliment, wenn ich ein Buch mit dem Werk meiner geliebten Ali vergleiche – aber Stanišić schafft das mit Vor dem Fest.

Vor dem Fest (übersetzt von Anthea Bell) ist ein breit angelegter Roman, der im Verlauf eines einzigen Tages und einer Nacht in Fürstenfelde spielt, ein Dorf in Brandenburg, in dem (wie in vielen anderen) mehr Leute sterben, als geboren werden. Die Kapitel wechseln zwischen der Sicht von Anna (die kurz vor dem Aufbruch zur Uni steht), Herrn Schramm („ehemaliger Oberstleutnant der NVA, dann Förster, jetzt Rentner und, weil es nicht reicht, schwarz bei Von Blankenburg Landmaschinen“) und einem Fuchs, sowie weiteren Dorfbewohnern, und werden immer wieder von dem Dorf als Chor, als amorphes, ironisches „wir“ vermittelt:

„Die Natur erobert sich zurück, was ihr gehört. Würde man woanders sagen. Wir sagen das nicht. Weil es Unfug ist. Die Natur ist inkonsequent. Auf die Natur ist kein Verlass. Und auf was du dich nicht verlassen kannst, damit bau keine Redewendungen.“

Der Roman wird am Vorabend des jährlichen Anna-Festes im Dorf erzählt. Niemand weiß zwar, was genau mit diesem Fest gefeiert wird, aber dieser Anlass eröffnet für den Roman die Geschichten und Traditionen des Dorfes – vom Gerede über Tanzabende und Informanten bis hin zur mittelalterlichen Mythologie – und erzeugt ein Gefühl des Unheimlichen. Figuren, die eigentlich nicht existieren können, laufen durch die Straßen – wie beispielsweise das reimende Duo aus Henry und Q, die den Bewohnern irgendwie aus den Dorflegenden bekannt sind. Stanišić widersteht der Versuchung, die Geheimnisse der Nacht zu erklären, sodass der Leserin lange nach der letzten Seite die Rätsel des Buches durch den Kopf gehen. Wer hat die Glocken eigentlich geläutet und war das wirklich ein Wolf?

Für mich ist Ali Smith eine der wahren Erben der Moderne – und Stanišić teilt ihre Fülle an Perspektiven und ihren geschickten, subtilen Stil. Vor dem Fest unterwandert immer wieder sich selbst: Das Buch fasziniert durch die Art, wie Stanišić die Geschichte und Geschichten des Ortes aufbaut – aber das Dorf stellt immer wieder infrage, ob diese Geschichten wohl „außergewöhnlich ungeschickte Fälschungen“ sind. Wer hier Geschichte zu ernst nimmt, wird in eine tragische Farce verwickelt. Die Liebe des Autors für den Ort und seine Leute ist klar zu erkennen, aber der Roman wird nie nostalgisch und wandert stattdessen von Trauer zu Ironie bis hin zur Freude – und wieder zurück.

Ich war gerade dabei, Vor dem Fest zu lesen, als ich die Nachricht erhielt, dass die Übersetzerin des Romans, Anthea Bell, gestorben war. In der Welt der Übersetzung war Bell eine Koryphäe – die Übersetzerin von Kafka und W.G. Sebald, die jedoch vor allem für ihre großartigen Wortspiele in den englischsprachigen Asterix-Büchern (Dogmatix für Idefix, Vitalstatistix für Majestix) bekannt war. Diese Verspieltheit erkennt man in ihrer Übertragung des gespielten Ernstes der Fürstenfelder Geschichtensammlung und ihr feines Gespür für Sprache wird durch die Wiedergabe der zahlreichen vielschichtigen Register des Buchs offenbar. Vor dem Fest ist ein überraschendes, bemerkenswertes Buch und ein passendes Denkmal für eine große Übersetzerin.

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