September 2019
Saisonarbeit: Die Welt der Arbeit hinterfragt

Book Cover: Saisonarbeit
Cover © MIT Press

Eine merkwürdige Diskrepanz herrscht zwischen den Ordnungsprinzipien englischer und deutscher Buchhandlungen. Während die Deutschen zwischen Sachbüchern und Belletristik unterscheiden, trennt man bei englischsprachigen Büchern „Fiction“ von „Non-Fiction“, trennt also Romane, Kurzgeschichten und Theaterstücke von allem anderen (niemand weiß genau, wo die Lyrik dabei hin soll…). Lange Zeit dachte ich, alle Non-Fiction-Bücher seien auch Sachbücher und ich muss sagen – begeistert war ich nicht. Ich las wegen Geschichten, Figuren und Sprachwitz, dachte ich, nie aufgrund von Fakten. Mit dem wachsenden Erfolg von Essays und der sogenannten „Creative Non-Fiction“ allerdings, bekam ich eine andere Sicht auf die Dinge. Zwei Highlights dieses – für mich – neuen Genres sind Die Argonauten von Maggie Nelson und, kürzlich erschienen, This Little Art von Kate Briggs. Diese Bücher springen zwischen Genres, zwischen Memoir, Geschichte, Philosophie. Sie laden uns in ihre Welt ein und lassen uns sie ein kleines bisschen anders sehen, oder sie formulieren Gedanken, die wir selbst nie ganz fassen konnten. Und all das mit Verve, mit Witz und Freude.

Der aktuelle Neuzugang in meinem „Non-Fiction“-Regal ist das Buch Saisonarbeit von Heike Geissler, in der Übersetzung von Katy Derbyshire. Die Autorin und Übersetzerin jobbte während eines Winters der Geldnot beim Amazon-Versandlager in Leipzig. In ihrem Buch Saisonarbeit teilt sie ihre Erfahrungen mit den Lesenden wortwörtlich: „Sie gehen los, ich begleite Sie und sage Ihnen, wie alles ist und was Ihnen passiert. Sie sind ab jetzt als ich unterwegs.“ Dieser Perspektivwechsel macht das Buch aus, er führt auf die spielerische, persönliche Ebene, selbst wenn das „Sie“ am Ende eines langen Tages erschöpft und frustriert ist von der Kleinlichkeit der Unternehmensregeln.

Wie alle meiner Generation, wuchs ich in eine Gig-Economy hinein, eine Gesellschaft der befristeten Stellen und Null-Stunden-Verträge, deren Sozialstaat für diese prekäre Art von Arbeit nicht funktioniert. Saisonarbeit las ich also mit wachsender Euphorie, aus dem Gefühl heraus, gesehen zu werden. Geissler erfasst zahllose Gespräche, die ich so auch mit Freund*innen und Bekannten schon über unsere Patchwork-Karrieren geführt habe, das Gefühl, dass „mit dieser Arbeit und vielen Sorten Arbeit grundsätzlich etwas faul ist“, vor allem wenn es „zuweilen wie Versagen wirkt, vom eigentlichen Job nicht leben zu können“. (Obwohl ich zugeben muss, dass ich – ebenso Freiberuflerin – ein ernstes Wort mit Geissler reden wollte, als sie zugab, schlecht beim Schreiben von Rechnungen zu sein…)

Sophie Collins regte kürzlich an, dass wir Übersetzungen nicht nach ihrer Wiedergabetreue, sondern ihrer Intimität zum Original beurteilen sollten – ein Deutungs- und Bezugssystem, das die Komplexität von Übersetzungsentscheidungen hoch hält. Die Intimität von Derbyshires englischer Übersetzung zum Original ist erstaunlich – sie nimmt Geisslers Stimme gänzlich auf, was es ihr ermöglicht, die Erzählung gelegentlich mit Erklärungen für nicht-deutschsprachige Lesende auszukleiden, ohne sie dabei je zu stören.

Die Millennials sind die erste Generation seit dem zweiten Weltkrieg, die ärmer ist, als ihre Eltern – aber unsere mangelnde Stabilität wird oft dargestellt, als sei es unsere eigene Schuld. Geissler ist zwar selbst keine Millennial, eröffnet mit der erfrischenden Klarsichtigkeit von Saisonarbeit aber Gespräche, die unbedingt weitergeführt werden müssen.

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