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(Un)Möglichkeiten der Lyrikübersetzung

(Un)Möglichkeiten der Lyrikübersetzung
© relativ kollektiv

Ist denn Übersetzen von Lyrik überhaupt möglich oder sollte man gleich von Nachdichten und Verwandlung sprechen? Wieviel Freiheit im Umgang mit dem Original ist erwünscht und erlaubt? Ändert sich unsere Wahrnehmung von der Aufgabe des Übersetzers? Von der traditionellen Frage der „Treue“ bis hin zur Betrachtung des Übersetzens als offenen Prozess lässt sich lange und gerne debattieren.

Elena Pallantza, selber Lyrikübersetzerin aus dem Deutschen ins Griechische und umgekehrt, traf die Lyrikerin Maren Kames in einem Gespräch mit Marina Agathangelidou, die derzeit an Kames Buch LUNA LUNA und dessen Übertragung ins Griechische arbeitet. Einblicke in die Schreib- und Übersetzerwerkstatt und ein Austausch über Form, Klang und Sinn am Beispiel des Deutschen und des Griechischen sollen zeigen, mit welcher Vielfalt an Kriterien an diese komplexe Arbeit herangegangen wird.

Sehen Sie sich hier den Trailer an:
 


Elena Pallantza (Moderation)
Maren Kames 
Marina Agathangelidou

Elena: Thema unserer Online-Diskussion ist die Übersetzung von Lyrik – ihre Möglichkeiten und Un-Möglichkeiten. Die erste Unmöglichkeit ist gewiss, dieses Thema in dem gegebenen Zeitrahmen ganz auszuschöpfen. Wir werden jedoch versuchen, einige relevante Aspekte zu tangieren und uns anhand eines deutsch-griechischen Beispiels ihnen gegenüber zu positionieren.

Elena: Jeder, der sich mir literarischer Übersetzung befasst, ist sich bewusst, dass diese Arbeit bei jedem Schritt zahlreiche unterschiedliche und komplexe Fragen aufwirft. Und er weiß auch, dass es sich um eine endlose Debatte handelt, die seit Jahrhunderten geführt wird. Dabei sind die Ansichten einander oft diametral entgegengesetzt, sowohl hinsichtlich traditioneller Fragen, wie etwa der berühmten Frage der Treue, als auch in Bezug auf eine allgemeine Haltung gegenüber der Übersetzung eines Textes als statischem Endprodukt oder als offenem Prozess, als Kontinuum.
Folie 1 © Elena Pallantza Elena: Tatsächlich scheint sich die Frage der Übersetzbarkeit im Fall der Lyrik beharrlicher zu stellen als in anderen literarischen Gattungen. Das mag daran liegen, dass wir es hier mit einer maximalen Verdichtung von Inhalt und Form auf kleinstem Raum zu tun haben, mit der intensivsten Interaktion von Rhythmus, Klang und Ideen mittels der Sprache. Demzufolge stellt jede Übersetzungsfrage im Grunde eine Frage der Poetik dar. 

Sehen Sie sich hier die Aufzeichnung des Seminars an:
 

Elena: Das erste, was mir einfällt, wenn ich den Film sehe, ist, wie sehr Übersetzung Verwandlung bedeutet, kreatives Anverwandeln. Der Film vermittelt, finde ich, einen ersten Eindruck von dieser Metamorphose, von der verwandelten Stimme.
Maren, du kannst kein Griechisch. Wie fühlt sich das für dich an, Marina zu hören?

Maren:  In dem Fall bin ich natürlich komplett auf die Ohren zurückgeworfen. Ich kann nur dem Klang und der Rhythmik folgen. Aber ich finde es faszinierend, auch mit jedem Mal, das ich mir das Video angucke… kommt mir die Vermutung, würde man Marinas und meine Stimme übereinanderlegen, würden die Phrasen, die wir sprechen, die Takte, ihre Länge, bis auf Millisekunden exakt übereinstimmen. Ich finde es faszinierend zu merken, wie viel Vertrauen ich zu einer Sprache gewinnen kann, zu der ich von der Semantik und dem Vokabular her keinerlei Zugangsmöglichkeit habe, schon nur dadurch, dass ich höre, wie sehr der Rhythmus der Übersetzung der Stimme meines Originals entspricht, ihr folgt. Und meine von da aus auch so eine Art Melodieführung wiederzuerkennen: wann geht die Stimme hoch, wann geht sie runter. Wenn ich dann anhand einzelner Worte im Gespräch mit Marina nachvollziehen kann, wie sie versucht Deckungsgleichheit herzustellen, ihr Verfahren kennenlernen kann, dann ist schon mal viel Vertrauen da.

Elena: Und du, Marina, du befindest Dich in einem Zwischenraum. Du hörst und liest auf der einen Seite Deutsch und sprichst und schreibst Griechisch. Was genau passiert in deinem Kopf in diesem Moment? Kannst du uns vielleicht diesen Raum beschreiben, zwischen dem Moment, in dem das Original aufhört zu sprechen, bis du dann ihm eine neue Stimme verleihst?

Marina: Ich würde sagen, es geht zugleich um einen rein sprachlichen und einen literarischen Vorgang. Die beiden Sprachen, Deutsch und Griechisch, sind die ganze Zeit da und hallen in meinem Kopf und wenn ich etwas übersetze, versuche ich sie auf der gleichen Frequenz schwingen zu lassen. Man hat aber, wenn man übersetzt, nicht nur mit Sprache im Allgemeinen, sondern mit einem konkreten literarischen Text zu tun, dem Originaltext. Der Originaltext existiert schon als etwas Fertiges, Vollendetes, mit seinem Inhalt und seiner Form, als Einheit. Und dieser Text, das Original, ist für mich überhaupt nicht still, selbst auf dem gedruckten Blatt Papier – ganz im Gegenteil, er hat seine eigene Stimme, die sehr deutlich ist, die ich aber zuerst erkennen und erfassen muss, bevor ich überhaupt mit dem Übersetzen anfange. Das ist also der erste Schritt: sich zu öffnen für eine andere Stimme, sich dieser Stimme allmählich anzunähern; und dann versuchen, etwas Neues zu generieren, in einer anderen Sprache, Schritt für Schritt, Wort für Wort. Aber die Stimme des Originals ist immer da, dient als Grundlage und zeigt mir den Weg und auch das Ziel, auf das ich hinaus möchte.

Elena: Die zweite Sache, die mir im Film aufgefallen ist, ist der Anfang: Man sieht euch einander gegenüber, sehr verbunden, man sieht die Übersetzerin und die Autorin einander auf Augenhöhe begegnen. Das ist ein Signal, m. E., denn wir hören sehr oft, dass die Übersetzer*in immer nur der Schatten der Autor*in ist, die Stimme, die nur nachahmt – so die alte, vielleicht traditionelle Auffassung des Übersetzens. Ich habe aber das Gefühl, dass heutzutage dem Übersetzen mehr Achtung entgegengebracht wird als je zuvor. Vielleicht spiegelt sich das sogar in den inzwischen vielen Fördermöglichkeiten der Übersetzung, die wir zumindest im europäischen oder im deutschsprachigen Raum sehen. So möchte ich Dich jetzt fragen, Marina, ob Du das auch so siehst, ob Du diesbezüglich eine solche Entwicklung beobachtest.

Marina: Ich finde die Bemerkung im Prinzip richtig und im Video funktioniert es auf einer symbolischen Ebene – das war kein Zufall, sondern Teil der Inszenierung. Ich habe auch den Eindruck, dass sich in den letzten Jahren etwas bewegt und dass die Übersetzer*innen in ihrer Rolle und Funktion von einer breiteren Öffentlichkeit wahr- und ernstgenommen werden. Das kommt nicht von alleine, sondern ist – zumindest hier in Deutschland, wo ich lebe und es beobachten kann – die Folge einer Reihe von Initiativen seitens verschiedener Institutionen und Netzwerke. Vieles aber bleibt noch zu tun, wenn man z.B. daran denkt, dass viele Verlage nach wie vor es nicht für sinnvoll oder notwendig halten, den Namen der Übersetzer*in auf dem Cover des Buches zu erwähnen oder wenn bei der Besprechung eines neuen Titels in einer großen Zeitung die Übersetzer*in ebenfalls unbenannt bleibt, als ob z.B. Karl Ove Knausgård oder Elena Ferrante, um einfach zwei bekannte Namen der zeitgenössischen Literatur zu nennen, ihre neuen Bücher direkt auf Deutsch geschrieben hätten.

Elena: Maren, du arbeitest neben deiner literarischen Arbeit ebenfalls als Übersetzerin. Willst du uns etwas darüber sagen?

Maren: Ich bin, anders als Marina, die klassische Quereinsteigerin. Allerdings können wir auch noch darüber sprechen, ob der Schritt vom eigenen Schreiben zum Übersetzen tatsächlich so groß ist. Zumindest in meinem Fall war das eine Zwillingspaarung, die sich daraus ergeben hat, dass sich jemand unsere Texte angeguckt hat und Verwandtschaften in der Rhythmik, in der Spracharbeit, in der Poetik erkannt hat – und darüber hinaus vielleicht auch eine Art Verwandtschaft gesehen hat, die sich gar nicht eins zu eins benennen lässt und die ich aber in dieser Zusammenarbeit bis heute spüre. Das tue ich jetzt etwa über drei Jahre und ich übersetze eine Theaterautorin, die aus Israel stammt, deren Muttersprache Hebräisch ist, die aber ausschließlich auf Englisch schreibt und bisher ganz vorwiegend an deutschen Bühnen aufgeführt wird. Und das ist auch eine Besonderheit, denn damit ist Sivan Ben Yishai, so heißt sie, wirklich fast zu 100% auf die Übersetzung angewiesen; es gibt ihre Texte quasi nur in der übersetzten Sprache. Wir haben auch ein ganz enges und auf Augenhöhe guckendes Verhältnis miteinander und klopfen jedes Wort ab, jeden Hallraum hinter jedem Wort, und das ist eine sehr bereichernde Nebentätigkeit. Manchmal wird sie auch zur Haupttätigkeit: Während ich sie übersetze, schreibe ich nicht an eigenen Sachen und möchte, wenn es geht, auch nichts anderes tun. Es fühlt sich meistens so an, als würde ich mir ihren Text, ihre Stimme, ihren Kosmos wie einen Socken über den Kopf ziehen und da rein kriechen. 

Elena: Marina, du bist eine ausgebildete Literaturübersetzerin. Was Maren uns geschildert hat, führt mich zu dieser Frage: Wie siehst du die Tatsache, dass so viele unterschiedliche Leute Literatur übersetzen? Es gibt Leute, die es machen nur, weil sie Philolog*innen sind, es gibt Leute, die es machen, weil sie jahrelang Lektor*innen waren, oder es sind tatsächlich die Lyriker*innen selbst, die sehr oft Lyrik übersetzen – oder eine ausgebildete Literaturübersetzer*in. Willst du uns sagen, was deiner Meinung nach die Vor- oder Nachteile eines Quereinstiegs sein können?

Marina: In meinem Fall war die Tatsache, dass ich zwei Jahre lang die Möglichkeit hatte, in der deutschen Abteilung von EKEMEL, dem Europäischen Zentrum für Literaturübersetzung in Athen, das es leider nicht mehr gibt, Literaturübersetzung zu studieren, extrem hilfreich. Ich habe dort von meinen Lehrern und Lehrerinnen, die alle erfahrene Übersetzer*innen waren, das Handwerk gelernt. Aber man braucht natürlich nicht Übersetzen studiert zu haben, um übersetzen zu dürfen. Über die Vor- und Nachteile eines Quereinstiegs bin ich mir nicht so sicher, im Sinne, dass ich sie jetzt nicht so einfach nennen könnte. Ich würde einfach sagen: Alle dürfen und sollen übersetzen, die übersetzen wollen. Einzige Voraussetzung sind aus meiner Sicht ein gutes Sprachgefühl für beide Sprachen, Ausgangssprache und Zielsprache, die Liebe für die Literatur und die Lust, mit und an der Sprache zu arbeiten. Jeder findet seinen eigenen Einstieg und seinen eigenen Weg, sich weiter zu entwickeln und zu verbessern. Man lernt natürlich viel auch durch die eigene Tätigkeit (learning by doing). Aber wenn man nicht Übersetzung studiert hat, hat man nicht unbedingt von Anfang an den Kreis von Kolleg*innen, mit denen man sich austauschen kann. Diesen Austausch halte ich für sehr wichtig, sowohl für die Anfänger*innen als auch für die fortgeschrittenen Übersetzer*innen. Daher würde ich allen empfehlen, die Weiterbildungsmöglichkeiten, von denen es mittlerweile genug gibt, in Anspruch zu nehmen, an Übersetzungsseminaren und -werkstätten teilzunehmen etc. Das kann sehr inspirierend, motivierend und unterstützend sein, denke ich.

Maren: Es geht mir - daran anschließend – tatsächlich auch so. Ich wehre mich immer oder scheue mich davor, mich Übersetzerin zu nennen. Ich übersetze Sivan Ben Yishai, ich bin ihre Übersetzerin – das kann ich inzwischen mit Fug und Recht und auch viel Erfahrung behaupten. Aber es ist wirklich diese eine konkrete Stimme, die ich so gut kennengelernt habe und mit der ich so eng im Austausch stehe. Kommt es zu anderen Übersetzungen, dann ist es bei mir so, die ich jetzt zum Beispiel kein Netzwerk und auch keine Ausbildung habe, dass ich mindestens einen ganz intensiven Kontakt zu der Autor*in suche, um dieses Backup herzustellen und auch einen Raum für Fragen zu öffnen. Denn es gibt immer Fragen. Selbst der Satz, der einem am klarsten vorkommt, hat irgendwie noch Hintersinnigkeiten oder Kurven, die man so oder so übersetzen könnte. Das sind Millionen von Entscheidungen, deshalb kann ich verstehen, was Marina sagt: Ich brauche auch immer unbedingt mindestens ein anderes Augenpaar, wenn nicht zwei, die da mit draufgucken. 

Elena: Ich glaube auch, trotz Studien und unabhängig davon, was man liest oder was man lernt, und selbst nach viel Übung: Man kommt zu dem Schluss, dass jedes Wort neue Fragen birgt. Und es gilt jedes Mal, eine neue Entscheidung zu treffen; und dies kann alles auf den Kopf stellen, was man bis dahin gelernt hat. Das ist das Besondere an dieser Arbeit, und das sind alles wichtige Entscheidungen, die die Übersetzer*innen andauernd treffen, bewusst oder manchmal unbewusst.
Folie 2 © Elena Pallantza (Elena:) ULRIKE DRAESNER Die Übersetzung von Gedichten ist nur unmöglich, wenn man von hundertprozentigen Akten der Nachahmung träumt. Doch wer wollte das? Wer könnte das auch?

Marina: Ich stimme der Aussage von Ulrike Draesner absolut zu. Die Nachahmung ist, glaube ich, ein falsches Konzept oder ein falsches Ziel, und zwar nicht nur bei der Übersetzung von Gedichten, sondern – würde ich ein bisschen provokativ behaupten – bei jeder Übersetzung, aus dem einfachen Grund, dass sich Sprachen voneinander unterscheiden, dass die grammatischen und syntaktischen Strukturen, die Redewendungen, die unterschiedlichen Sprachebenen und Nuancen von Sprache zu Sprache anders sind, und vieles, was in einer Sprache oder in einem Text funktioniert, funktioniert in einer anderen Sprache gar nicht. Wenn man auf so ein Ziel, wie das der Nachahmung, verzichtet und stattdessen eher daran orientiert ist, Entsprechungen oder Äquivalenzen zwischen dem Original und der Übersetzung herzustellen, scheint alles möglich zu sein – sogar das Übersetzen von Gedichten.
Folie 3 © Elena Pallantza (Elena:) Der übersetzte Text soll im deutschen Sprachraum eine ähnliche Wirkung hervorrufen, wie im originalsprachlichen, (das ist das, was die Translationswissenschaft „Wirkungsäquivalenz“ nennt). Doch sollen Irritationsmomente auch erhalten bleiben, die für eine produktive Verunsicherung sorgen. von LEA SCHNEIDER 

Maren: Das würde ich zu 100% unterschreiben – zumindest den Teil mit der ähnlichen Wirkung – und das sogar noch stärker fassen: Ich finde, es sollte möglichst exakt dieselbe Wirkung sein, wobei – und das verbindet sich mit dem vorherigen Zitat – das, glaube ich, eigentlich, nicht durch hundertprozentige Nachahmung erreicht werden kann. Es kann sogar eigentlich, glaube ich, nur dann erreicht werden, wenn man sich von diesem fast sklavischen Eins-zu-eins befreit und nach den Spielregeln von einem Text guckt und der eigenen Grammatik, die da aufgebaut wird und nach der Haltung, die da transportiert wird, und der Textur, die so ein Text hat, also alle Dinge vom Rhythmus und Klang bis hin zu Wortneuschöpfungen und Semantik; und das alles nicht unter dem Damokles-Schwert „es muss alles Eins-zu-eins übersetzt werden“. Dann könnte man es auch in die Google-Translate-Maschine einspeisen (ich weiß nicht, wer mit dem Ergebnis zufrieden wäre, ich glaube, ich wäre es nicht). Auf die Wirkungsäquivalenz oder die Wirkungsästhetik von einem Text zu achten ist vielleicht fast das Gegenteil davon, zumindest ein sehr anderer Prozess, den keine Maschine übernehmen kann. Weil es da auch gilt, Ausweichmanöver zu probieren: Wenn ich eine Redewendung nicht Eins-zu-eins ins Griechische übertragen kann, aber an einer anderen Stelle eine Lösung suche und im besten Fall auch finde, die den gleichen Move, die gleiche Bewegung, die gleiche Spielregel an einer anderen Stelle vollführt, dann rückt man so viel näher an das Original ran, dann verbinden sich beide Texte auch viel stärker. Und das Irritationsmoment: ich kann das nachvollziehen, ich würde aber sagen, das ist eine Fall-zu-Fall Entscheidung. Ich glaube nicht, dass jede Übertragung in eine andere Sprache unbedingt Marker haben muss, dass es eine Übersetzung ist. Für mich muss das nicht bei jedem Übertragungsprozess oder Übersetzungsprozess der Fall sein. 

Elena: Ich sehe das auch so. Ich glaube allerdings, unter „Irritationsmoment“ könnte man auch die kleinen Elemente verstehen, die zeigen, dass es kein originaldeutscher Text (in diesem Fall) ist, dass das Original nicht wirklich hier zu Hause ist. Dass das auch bewahrt werden muss, um auch ein bisschen auf das Exotische, das Fremde hinzuweisen, denn Übersetzung hat schließlich mit Fremdheit zu tun.

Maren: Um den Übergang zu markieren und zeigen, dass der Text gewandert ist, von dem einen Sprachraum in den anderen. 
Folie 4
(Elena:) WOLFGANG KUBIN geht in die Richtung der Interpretation: Übersetzen heißt auch das Unverständliche verständlich bzw. verständlicher machen. Das bedeutet in der Sprache von Heidegger: entbergen.
 
Marina: Hier bin ich ganz anderer Meinung. Ich denke nicht, dass die Übersetzer*in irgendetwas verständlicher machen oder erklären soll. Ich finde, dass die Literatur ohnehin keine Erklärungen braucht. Wenn etwas im Originaltext zweideutig, abstrakt, komplex oder nicht sofort zugänglich scheint, dann ist das ein sehr wichtiges Merkmal des Textes und soll als solches behalten und in die andere Sprache übertragen werden. Auch im Falle von kulturellen Besonderheiten, von realen Informationen, die in einen Text einfließen, und die z.B. mit der Geschichte eines Landes zu tun haben und dem Lesepublikum dieses Landes zwar vertraut aber dem Lesepublikum eines anderen Landes nicht bekannt sind, sollte man, meiner Meinung nach, vermeiden zu versuchen, sie im Text verständlicher zu machen. Höchstens eine Anmerkung oder eine Fußnote hinzufügen oder lieber eine Endnote – und das wäre alles.
Folie 5 © Elena Pallantza (Elena:) Hier ein Text von ESTHER KINSKY: Ich halte nicht viel von der Betonung der Rolle des Übersetzers als „Brückenbauer“ und „Kulturvermittler“… Jede Übersetzung ist in erster Linie das Ergebnis eines Gestaltungsprozesses von Sprache als Material… ein Prozess, in dem das „Was“ hinter dem „Wie“ zurücktritt. 

Maren: Als ich das gelesen habe – beim ersten Teil wieder volle Zustimmung. Ich möchte niemanden auf die Füße treten, aber bei Worten wie Brückenbauer oder Kulturvermittler*in, Kulturvermittlung an sich… ich glaube, das gehört in einen Bereich der Sprache, der nicht in aller erster Linie etwas mit Übersetzung zu tun hat, sondern möglicherweise eher mit Förderanträgen. Und ich finde Wörter wie Brückenbauer*in, Kulturvermittler*in allein schon deswegen seltsam, weil da die Annahme dahintersteht, dass Texte und auch möglicherweise ganze Sprachen diese festen Einheiten sind, die sich wie Schiffsladungen von einem Land ins nächste transportieren lassen. Und ich glaube unbedingt, dass es komplizierter ist, und es ist eben komplizierter wegen dieses „Wie“s, das Esther Kinsky erwähnt. Sobald man den Übersetzungsprozess – irgendeinen, jeden – genauer betrachtet, fängt es an, sich aufzulösen. Weil dann ist es z.B. so, dass zwei Autorinnen oder Autoren aus dem spanischsprachigen Raum völlig unterschiedliche Stimmen haben, und dem einen sagt die eine Stimme mehr und der anderen sagt die andere Stimme mehr – insofern wäre dieses übergestülpte, großangelegte Vorhaben von Kulturvermittlung nicht meins, bzw. bin ich, wenn ich übersetze und auch wenn ich übersetzt werde, mit so vielen Millionen von Details beschäftigt, die erstmal wichtiger sind als dieser große Überbau. Die Einordnung von Übersetzung als Wert an sich – das sollen andere beurteilen. Esther Kinsky sagt ja auch, Übersetzung sei ein Prozess in dem das „Was“ hinter dem „Wie“ zurücktritt. Ich würde das nicht als Hierarchisierung betrachten, sondern ich glaube, dass man sich als Übersetzer*in so sehr mit dem „Wie“ beschäftigt ist, dass das „Was“ automatisch im Schlepptau hinterherkommt. 
(Es folgt eine Lesung aus LUNA LUNA auf Deutsch und in griechischer Übersetzung) 
Folie 6 © Elena Pallantza Maren: Wir dachten, es ist vielleicht ganz schön, mal kurz in die Details hineinzustippen, so eine Kurzvisite zu manchen Stellen, über die wir gestolpert sind oder die wir besonders fanden, wo man nach alternativen Lösungen suchen und Tricks knacken musste, usw. (Das gehen wir jetzt mal durch.)
Folie 7 © Elena Pallantza Maren: Wir fangen mit dem Anfang an. Der erste Satz des Buches ist: „das wird super. / aber / was man vorher wissen muss: 1 scheiße und eiskaltz“. D.h. wir haben hier zwölf Wörter und innerhalb der ersten zwölf Wörter fällt schon „super“, danach fällt „scheiße“, danach fällt „eiskaltz“ mit einem z hinten. Es taucht also unmittelbar in die Umgangssprache ein, mit „scheiße“ noch mehr als mit „super“. Es sind beides Wörter, die man nicht unbedingt in einem vermeintlich eher hochsprachigen lyrischen Text erwartet, und trotzdem kommt es eben auf die Feinheiten an, dabei die Entsprechungen im Griechischen zu suchen – für „super“ und „scheiße“ und „eiskaltz“. Und ich glaube, „super“, Marina, war relativ leicht…

Marina: Ja, ich habe mich in diesem Fall für das Wort „teleia“ entschieden, das im Griechischen „perfekt“ heißt und das aber in der Umgangssprache genauso funktioniert. Man verwendet es sehr oft.

Maren: Anders als „perfekt“ im Deutschen, das man nicht so dermaßen oft verwendet wie „super“. „Super“ ist flapsiger und eine Stufe unter „perfekt“ sozusagen.

Marina: Im Griechischen ist es in diesem Fall anders. Und dann hatten wir auch dieses „scheiße“, das auch im Griechischen nicht unbedingt Eins-zu-eins übertragen werden kann , ich meine, das entsprechende Wort für „scheiße“ im Griechischen („skata“) benutzt man eigentlich nicht so sehr, deswegen habe ich hier ein anderes Wort genommen, nämlich „chalia“. Das schwierigste hier war allerdings dieses „eiskaltz“.

Maren: Das Schöne an „chalia“, wenn ich es richtig ausspreche, ist, dass es genauso wie „scheiße“ sowohl Substantiv als auch Adverb sein kann, also „das wird super, aber was man vorher wissen muss 1 es wird jetzt erstmal scheiße“ – wir hören jetzt auf, dieses Wort zu sagen. Das waren also Volltreffer, die sich für Marina relativ schnell gefunden und uns aber trotzdem gefreut haben. „Eiskaltz“ war schwieriger…

Marina: „Eiskaltz“ ist ein Neologismus und ich hatte mir überlegt, was ich machen könnte. Irgendwie habe ich festgestellt, dass mögliche Neologismen hier nicht funktionieren würden. Deswegen habe ich mich für das Wort „psofos“ entschieden. Es heißt eigentlich „krepieren“, nur als Substantiv, aber zugleich benutzt man das in einer Redewendung: „kanei psofo“ – und in dieser Bedeutung ist es sehr nah an „eiskalt“ und bedeutet „sehr kalt“ in der Umgangssprache. Was mir hier gefallen hat und mich überzeugt hat, dieses Wort zu nehmen war diese Entsprechung zwischen „chalia“ und „psofos“: Es sind beide zweisilbige Wörter, und auch die Laute -ch- und -ps- auf Griechisch sind nahzueinander, was den Klang betrifft.

Maren: Genau, was im Deutschen ja auch prägnant ist, der Gleichklang von, „sch-eiß-e“ und „eis-kaltz“. Ich wollte dieses Kühle, Scharfe, und als Marina mir erzählt hat, dass „psofos“ wortwörtlich „krepieren“ bedeutet, was ja schon sehr krass ist – fand ich trotzdem, etwas Sterbendes oder Weggehendes, sich Verlierendes, Auseinanderbrechendes steckt so sehr im Text und auch in der Dunkelheit, in die man nach dieser Einleitung reinfällt, dass ich diese Mischung – es hat was Eiskaltes und was Todesnahes – eine tolle Lösung fand. 
Folie 8 © Elena Pallantza Marina: Hier haben wir den Titel „Luna Luna“ und dann „lunar“ als Adjektiv, Maren.

Maren: Ich finde, das Schöne an „Luna Luna“ ist, dass es weder der deutschen Sprache noch der griechischen gehört. Ich finde, es ist wie eine intermediale, zwischenweltliche Sprache: Es gibt die Luna, die weibliche, im Deutschen nicht, es ist der Mond im Deutschen; es gibt die Luna auch nicht im Griechischen - wie ist das griechische Wort für „Mond“?

Marina: Wir haben zwei Wörter, entweder „feggari“, das neutrum ist, oder „selini“, und „selini“ ist tatsächlich weiblich. Und aus „selini“ gibt es auch – damit etymologisch verbunden – das Adjektiv „seliniasmeni“ – und das ist das Wort, das ich im zweiten Fall benutzt habe. Ich wollte da nichts ändern: „Luna luna“ ist, wie du gesagt hast, ein internationaler Begriff. Man versteht natürlich, dass es um den Mond geht, und „seliniasmeni“ hat diese Bedeutung von „verrückt werden“, was, wie ich verstanden habe, für dich ok war.

Maren: Ja, sehr. Im Prinzip kam ja der Titel aus dem englischen Songtext No More I Love You´s von Annie Lennox: „I used to be a lunatic“. Und ich wollte unbedingt das Lunare auch im Text,  auch weil es wortwörtlich sehr viel näher am Wahnsinn ist als „der Mond“. Insofern konnte man am Titel nichts rütteln, mussten wir aber auch nicht, und für „lunar“ hat Marina also das „Mondsüchtige“ gefunden. 
Dann kommt jetzt die „gans aus pappmaché“.
Folie 9 © Elena Pallantza Maren: Sie (das weibliche Lyrische Ich) klebt sich also diese Gans aus Pappmaché, die sie unmittelbar darauf zum Platzen bringt. An einer etwas späteren Stelle im Text sagt sie: „ich klebte mir eine“. Man könnte erstmal meinen, sie wiederholt einfach diesen Satz, und dadurch, dass sie ihn abbricht, kriegt das semantisch aber eine ganz neue Bedeutung, weil „ich klebte mir eine“ heißt: „ich habe mir eine runtergehauen“, ich habe mir selbst eine Ohrfeige gegeben. Und das…

Marina: …das war eine Stelle, worüber wir lange diskutiert haben. Es war ziemlich problematisch, weil ich einerseits nichts Entsprechendes mit dem „kleben“ bauen konnte; ich habe mir Unterschiedliches überlegt und Dir vorgeschlagen, ich könnte eine Redewendung nehmen, die eine ähnliche Bedeutung hat. Es gibt z.B. im Griechischen den Ausdruck „kollissa kapoion ston toicho“, jemanden an die Wand kleben, jemanden entwaffnen, in eine schwierige Position bringen. Doch haben wir uns dagegen entschieden, weil wir eigentlich auch ein Problem mit dem ersten Vers hatten, mit dem Dativ „mir“. Mit dem Wort „kleben“, „kollao“ auf Griechisch, würde es also nicht funktionieren, denn ich hätte dann sagen sollen: ich klebte etwas auf mich, „kollisa pano mou“.

Maren: Und das meint es ja nicht… 

Marina: Deswegen habe ich letztendlich ein anderes Wort genommen: „ftiachno“, basteln, fabrizieren oder einfach machen. Und dann hast du vorgeschlagen, wir könnten hierfür eine andere Textstelle wiederholen.

Maren: Genau. Es kommt ja immer auf die Anschlüsse im Text an. Auch wenn es ein fragmentierter, collagierter Text ist, kommt es sehr stark auf ihren Gedankenstrom an. Nach der Ohrfeige, die sie sich im Deutschen gibt, kommt die Passage: „Und wenn ´s mich verletzt, verletzt es mich, aber ich lasse es rein […]“. Also auch wenn sich mit „kleben“ nichts in der Art bauen lässt, die Redewendung und die interne Referenz verloren geht, muss es anschlussfähig sein. Wir haben uns dann entschieden, etwas aus diesem sehr hypnotischen, schnell durchlaufenden ersten Teil zu nehmen und es wie eine Erinnerung, ein kurzes Zwischenresümee zu wiederholen: „es stank / ich sank“.

Wobei – das vielleicht noch als Abschluss: Es steht ja noch eine Ente im Raum! Du hattest mal vorgeschlagen, wenn man die Gans durch eine Ente ersetzt, hätten wir im Griechischen einen Vorteil im Klang…

Marina: Der Vorteil im Klang wäre, dass „papia“, das griechische Wort für „Ente“, sehr nah zu „Papier maché“ ist.
 
Maren: Und ich habe damals schon gesagt, ich kann es nicht Eins-zu-eins aufschlüsseln oder erklären, aber mir ist die Ente als Tier an sich zu geduckt, zu klein und zu kurzbeinig. Eine Gans mit einem langen eleganten Hals und einem relativ großen Körper kann ich mir mehr als so eine Pappmaché-Figur vorstellen, die sich jemand als Traumgebilde oder Fantasiefigur baut und dann hineinsticht. Das ist eben die Schwierigkeit, dass die Tiere als Metapher, mit allem, was sie an Gefühl und Assoziation mitbringen, aber auch an Physis einfach, wichtig und schon genau ausgesucht sind. Gleichzeitig ist es aber eben ein Text, der sich permanent auch aus der Sprache fortentwickelt. Und wenn es jetzt im Griechischen diese Option gibt, durch einen Gleichklang die Ente und das Pappmaché aneinanderrücken kann, wäre es immer noch eine Überlegung, ob man dieses Tier nicht einfach austauscht. Aber das bleibt noch offen.

Elena: Das war wirklich ein toller Einblick! Man sieht tatsächlich, wie viel man bei jedem Wort bedenken muss…. Wie viele Alternativen die Übersetzer*in hat und assoziativ wecken und vergegenwärtigen kann, um dann aber immer und immer wieder zu überprüfen, ob sie funktionieren. Ich nehme an, Marina, es ist noch ein offener Text, es ist nicht das Endprodukt. Ihr seid mitten in der Arbeit, deshalb ist alles noch offen und kann wieder variiert werden je nachdem, wie sich der ganze Text entwickelt. Und das ist auch Teil der Arbeit der Übersetzer*in.
Als Schlusswort für diese Veranstaltung wollte ich nur noch von Euch hören: Unübersetzbar, also Unmöglichkeit der Lyrikübersetzung – ist es für Euch ein Begriff? Gibt es Texte, über die ihr denkt, dass es nicht geht, dass man sie gar nicht anfassen sollte oder irgendwas in der Richtung?

Marina: Nein. Vor allem, wenn man den Begriff so allgemein verwendet, wie es oft der Fall ist: Lyrik sei unübersetzbar oder ein Text sei unübersetzbar. Ich kann mit so einer Behauptung überhaupt nichts anfangen. Ich finde sie als Haltung grundsätzlich falsch. Natürlich kann es sein – wir haben es ja an den Beispielen gesehen – dass ein Wort, eine Redewendung oder ein Vers nicht Eins-zu-eins übertragbar sind. Natürlich ist man als Übersetzer*in ständig mit Schwierigkeiten konfrontiert und normalerweise ist es so, dass je besser, komplexer, experimenteller, innovativer der Originaltext ist, desto schwieriger wird die Arbeit der Übersetzer*in, aber die Arbeit der Übersetzer*in besteht auch gerade darin, kreativ mit den Schwierigkeiten umzugehen, Lösungen zu finden. Das kann manchmal natürlich auch anstrengend sein, aber für mich ist es auch ein großer Genuss.

Transkription: Elena Pallantza Folie 10 © Elena Pallantza

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