Krieg
Krieg, Poesie und Tapferkeit: Eine Ode an Odessa

Krieg, Poesie und Tapferkeit: Eine Ode an Odessa
© unsplash

Aber in der geheimen Geschichte der Wut – lebt die Ruhe eines Mannes
in den Körpern anderer – während wir tanzen, damit wir nicht fallen

zwischen dem Doktor und dem Anwalt:
meine Familie, die Menschen in Odesssa
Frauen mit großen Brüsten; alte, naive, kindische Männer

all unsere Worte, Haufen aus brennenden Federn
die bei jedem erneuten Erzählen höher werden.

--Ilya Kaminsky, In Praise Of Laughter („Ein Lob auf das Lachen“), in:
Dancing In Odessa („Tanzen in Odessa", Massachusetts: Tupelo Press, 2004)
 

1.

Seit 2019 feiern mein damaliger Verlobter und jetziger Ehemann dessen Geburtstag am 24. Februar. Einmal fand das Ganze per Videochat statt, weil ich gerade als Gastautorin an Bord eines Kreuzfahrtschiffs war, das von Bali nach Yokohama unterwegs und er in Jakarta war, aber meist haben wir diesen Tag gemeinsam gefeiert und sind aus diesem Anlass (außer 2020, da musste es ausfallen) mit seinen Eltern und seiner Schwester, quasi den anderen Lieben seines Lebens, zum Essen in ein Restaurant gegangen.

Dieses Datum war schon immer etwas Besonderes, denn nur einen Tag später hat meine einzige Tochter, die inzwischen in Boston lebt, Geburtstag. Wir sind gewiss nicht abergläubig, aber irgendetwas an diesem glücklichen Zufall erscheint uns schicksalhaft.

Am 24. Februar diesen Jahres waren wie Vier (mein Mann und ich sowie meine Schwiegermutter und meine Schwägerin) gerade in einem italienischen Restaurant in einem abgelegenen Vorort in Nord-Jakarta. Plötzlich blinkten unzählige Nachrichten auf unseren Smartphone-Bildschirmen auf, und man sah Videoclips von dunklen Rauchwolken, die sich über die Städte Kharkiv und Kherson legten. Dann eine weitere Explosion in einem anderen Teil des Landes, die per Handy-Kamera gefilmt wurde. Das Gesicht von Wolodymyr Selenskyi, der sogleich versuchte, die Bevölkerung zu beruhigen und zu ermutigen - jener ehemalige Comedian, der zum Präsidenten gewählt wurde und der in nur wenigen Tagen, wie David Remnick im New Yorker schrieb, „mit seiner klaren Sprache die Menschen aufrütteln würde” und der „in der folgenreichsten Stunde in Europa seit dem Zerfall der Sowjetunion die Rolle eines Winston Churchill eingenommen hat.”

Russland war in die Ukraine einmarschiert.

Ich weiß noch, wie ich sagte „Troja ist gefallen”. Ich konnte nicht anders, denn im Herbst 1935 hatten die Franzosen, nachdem sie Jean Giraudouxs Stück Der trojanische Krieg findet nicht statt gesehen hatten, gelernt, ihr Land als verletzliches Troja anzusehen, während der finstere und bis an die Zähne bewaffnete Hitler quasi als Raubtier vor den Toren lauerte. Als glühender Anhänger der Mythologie fand ich diese Analogie schon immer passend.

Ausgerechnet Giraudoux wurde 1939 Propagandaminister im Krieg und setzte sogar unverfroren „hunderttausend aschkenasische Juden, die aus den Ghettos in Polen und Rumänien geflohen sind”, noch vor den Nazis auf die Liste der größten Bedrohungen der Sicherheit in Frankreich. Aber keiner wusste besser als er selbst, dass die Wahrheit im Krieg immer das erste Opfer ist. „Sobald Krieg in der Luft liegt“, ließ er seine leidende Figur Andromache in seinem Stück sagen, „lernt jeder, in einem neuen Element zu leben: der Falschheit.“

2.

Alles andere wäre auch unmöglich. Schauen wir uns doch die vergangenen zwei Wochen an: Die Geschichte ändert sich so rasant, wir alle sind in der Aufwärtsspirale aus gegensätzlichen Angaben, Fehlinformationen, Reportagen und Analysen gefangen, und wir können unmöglich mit der Nachrichtenlage mithalten, geschweige denn, das ganze Ausmaß der Situation dessen erkennen, was wohl, wie Thomas Friedman es ausdrückte, „der wohl folgenreichste Moment der Weltgeschichte seit dem Zweiten Weltkrieg ist.“

Dennoch ist es unglaublich, wieviel wir bereits vor dem 24. Februar wussten. Wir wussten, dass Putin behauptete, der Westen würde die Ukraine nur als Vorwand benutzen, um Russland anzugreifen und zu zerstören. Immer und immer wieder brachte er falsche Geschichten über die Ukraine in Umlauf, die angeblich die russisch-sprechende Minderheit grausam unterdrücken würden und rechtfertigte sich wiederholt dafür, die Separatistentruppen gestützt zu haben, die seit 2014 einige Teile der Ostukraine an sich genommen haben.

Clare Malone hat im New Yorker das beschrieben, was viele vor Ort einen „Tik Tok Krieg“ nennen, dessen Ablauf recht klar war. Präsident Biden hat uns wiederholt gesagt, dass Russland in die Ukraine einmarschieren würde und die USA militärisch nicht eingreifen würden. Die Ukraine ist nicht in der NATO, und Russland verlangt, dass dies auch so bleibt, während die NATO in Osteuropa ihre Truppen verstärkt. Macron hat sich eingeschaltet und versucht, in der Krise zu deeskalieren, ist aber gescheitert. Die USA und ihre Verbündeten begannen mit scharfen wirtschaftlichen Sanktionen gegen Russland, aber dies schien Putins Entschluss nur noch zu bestärken. Deutschland gab sich derweil gewohnt pragmatisch und distanziert (für die meisten Deutschen ist der Gedanke, gegen Russland in den Krieg zu ziehen, unvorstellbar, aber auch das hat Kanzler Olaf Scholz alsbald zurechtgerückt.)

Ja, wie so oft waren auch hier alle bösen Vorzeichen da. Was jedoch diesen Konflikt so sehr von den anderen, die wir bisher erlebt haben, unterscheidet, ist, dass er so detailliert auf Social Media präsent ist. Egal, welchen Wahrheitsgehalt eine Information hat, was echt und was ein Hoax ist, was echte Kriegsberichtserstattung und was eine Falschnachricht ist, wir nehmen alles auf.

Troja ist nicht nur gefallen, Troja wehrt sich.

Und genau hier, auf den Bildschirmen unserer Smartphones, erleben wir live die Transformation eines Wolodymyr Selenskyi mit, dem ersten jüdisch-ukrainischen Präsidenten, der auf einmal für uns alle zum Superhelden wird. Dieser schafft es nicht nur, die traditionelle Rolle eines politischen Führers komplett zu durchbrechen, sondern auch, die Haltung der Öffentlichkeit radikal zu ändern, von der durchschnittlichen Bevölkerung bis hin zu den Machthabern und Machthaberinnen in Europa und auf der ganzen Welt - und das in nur einer Woche. Auf einmal sind die von ihm gewählten Begriffe „Demokratie“, „Autonomie“ und „Frieden“ nicht mehr nur abstrakte Begriffe, sondern ein Handlungsaufruf, diese Rechte zu verteidigen und für sie zu kämpfen. Die Welt war aufgewacht. Scholz machte eine beachtliche Kehrtwende im Bundestag und schickte Waffen in die Ukraine – mit erstaunlichen 78 % Zustimmung aus der deutschen Bevölkerung.

Der Kontrast zwischen Selenskyi und Putin könnte nicht größer sein: Doppel-Porträts in den Medien zeigen, wie sehr sie sich in Sachen Stil, Sprache und Ausdrucksweise unterscheiden. Vielleicht sagt uns das, was wir auf der einen Seite als persönlichen Mut und Widerstandskraft und auf der anderen als Steifheit und Paranoia sehen, nicht nur etwas über uns selbst, sondern auch über die Zeiten, in denen wir leben. Gillian Tett von der Financial Times berichtete einmal von einem Konferenzdinner, bei dem ein „vergnüglich-verschmitzer“ Selenskyi nach dem Essen eine Rede gehalten hatte. „In der Ukraine“, so schrieb sie, „bezeichnet der Begriff ‚postmodern‘ surrealen Humor, kreativen Widerstand gegen die Invasion der russischen Autokratie und ein Abwenden von der Identitätspolitik des 20. Jahrhunderts.“

Die Ukrainer sollten es wissen.

3.

Und wir hier in Indonesien, auf der anderen Hälfte des Globus, wissen das auch. Wir sind schon viel zu lange zermürbt durch die Pandemie und den Mangel an starker Führung, daher kennen wir wohl den Wert (und die Kraft) von Tapferkeit und Frohsinn. Wir sind Gräuel und Brutalität leid und scheuen uns nicht mehr, diese beim Namen zu nennen.

„Putin ist so verrückt, so krank“, sagte meine Schwiegermutter zwischen Antipasti und Primi Piatti. Sie ist 84, hat zwei Weltkriege überlebt, schaut Tik Tok und Cable News und kennt das aktuelle Zeitgeschehen genau.

Meine eigene 77-jährige Mutter hat derweil ihre ganz eigene Meinung darüber, warum die Russen in die Ukraine einmarschiert sind und welche Folgen dies haben wird. Sie beschuldigt meist den Westen für diese missliche Lage und schickt mir YouTube-Videos, in denen zahlreiche bekannte Intellektuelle diesen Standpunkt untermauern. Sie sorgt sich zudem, inwieweit dieser Krieg auch in Indonesien Spuren hinterlassen wird. Erst vor ein paar Tagen sprach sie über steigende Weizenpreise - schließlich ist die Ukraine seit drei Jahren der größte Weizenimporteur in Indonesien - und die möglichen Folgen auf die Produktion unserer Grundnahrungsmittel.

Ich fühle jedoch, dass sie die Vorstellung von Imageberatern in Moskau, die den Lauf der Geschichte beeinflussen wollen, genauso beunruhigt. Ich vermute, es wirkt auf sie irgendwie altertümlich und letztendlich sinnlos. Imperialismus ist ihr seit je her ein Gräuel. Obwohl sie erste Ende 1944 geboren wurde, zwei Jahre nach der Besetzung Indonesiens durch Japan und ein Jahr vor dem Versuch der Niederländer, unser Land wieder zu kolonisieren, wurde ihr Leben von den Folgen des Kriegs direkt beeinflusst. Die meisten von uns haben dagegen noch nie Krieg erleben müssen.

„Aber Putin wird doch nicht aufhören“, bemerkte das Geburtstagskind. „Er wird erst recht weiter machen und den Krieg eskalieren lassen, bis von der Ukraine nichts mehr übrig ist.“.

Für eine kurze Zeit schwiegen wir. Irgendwie schmeckte die Pizza nicht mehr so gut wie noch vor einer Woche, als wir das Restaurant getestet hatten. Ich dachte an die 7,5 Millionen Kinder in der Ukraine, von denen schon eine halbe Million in Nachbarländer geflohen waren und nun den Westen um humanitäre Hilfe bitten. Viele dieser Kinder sind getötet worden, waren verletzt, ohne Dach über dem Kopf und ausgehungert; einige von jenen, die nicht geflüchtet waren, wurden mit ihren Familien in U-Bahn-Stationen und Zugwagons gepfercht, wo sie frierend und verängstigt ausharren mussten. Einige der Familien dieser Kinder wollen ihr Land aus Prinzip nicht verlassen. Und dennoch saßen wir hier, aßen und unterhielten uns. Und genau das werden wir wohl auch weiterhin tun: essen, reden, und nicht viel mehr.

„Wisst Ihr, ich war vor sechs Jahren in der Ukraine“, sagte ich. „Und das war eine der bewegendsten und prägendsten Erlebnisse meines Lebens.“

4.

Eine meiner liebgewonnenen Eigenheiten des Schriftstellerinnendaseins ist die Begegnung mit Gleichgesinnten an einigen der schönsten Flecken der Erde, aus denen oft Freundschaften entstehen. Wie bitter ist es da, sich auf einmal aus einem Grund diese Orte vor Augen führen zu müssen, der so furchtbar anders ist als das, was uns ursprünglich zusammengebracht hat, nämlich die Möglichkeit eines bevorstehenden Kriegs.

Vielleicht ist das nicht so überraschend, denn unser Thema ist ja die Menschlichkeit: Wir schreiben über unsere Verrücktheiten, Wahnvorstellungen, Ansprüche, Gräueltaten, Mittelmäßigkeiten, unserem Hang zur Gewalt und unsere Fähigkeit zu lügen, gleichzeitig suchen wir aber sogar im Schmerz noch die Schönheit - in Gestalt von Resilienz, Solidarität und vielleicht auch Vergebung.

Wie sonst könnte ich meine Erfahrungen beim Odessa Literaturfestival 2016 beschreiben? Obwohl dies erst ein Jahr zuvor gegründet worden war, hat es sich schnell in der ukrainischen Kulturszene etabliert und sich zum Zentrum der osteuropäischen Literatur entwickelt. Seine besondere Form und Bedeutung zieht es jedoch aus seiner einzigartigen Positionierung in einem bilingualen Land, das aus einem russisch sprechenden Osten und einem ukrainisch sprechenden Westen besteht, wo die Sprachen stets im Wettbewerb zueinanderstehen und politisiert werden.

Wie ich später erfuhr, wurde das sogenannte „Sprachproblem“ von der Regierung oft als Entschuldigung genutzt, um Feindschaften und Konflikte zu schüren. Als das korrupte Regime von Janukowytsch 2013 gestürzt wurde, sandte Putin unter dem Vorwand, die russisch sprechende Bevölkerung schützen zu wollen, Truppen auf die Krim und annektierte am Ende das Territorium. Dennoch werden hier offenbar beide Sprachen einfach weitergesprochen, das Leben geht einfach weiter und viele der renommiertesten Autor*innen Europas besuchen dieses Festival Jahr um Jahr.  

Zu dieser Zeit pendelte ich noch zwischen Berlin und Jakarta und arbeitete an einem Roman, der in beiden Städten spielt. Ich war damals noch nie in der Ukraine oder in Russland gewesen, wollte aber immer schon dorthin - vor allem wegen Dancing In Odessa, der so verstörenden wie großartigen Gedichtsammlung von Ilya Kaminsky. Der ukrainisch-amerikanische Autor wurde in Odessa geboren, und ich habe 2006 erstmals etwas von ihm gelesen.

Zu den ersten nachhaltigen Eindrücken dieser Einladung zählte eine Podiumsdiskussion. Es handelte sich um eine vergleichende Studie, in der es um Erfahrungen mit dem Leben am Meer ging. Das war bei mir in Jakarta der Fall, die anderen beiden Teilnehmer*innen berichteten aus Griechenland und Argentinien. Es ging um die Fragen, wie sehr dieser Wohnort unser Leben geprägt hatte, was sich seit damals geändert hatte, wie schnell unsere Städte absinken und warum.

Ich war bereits auf vielen Festivals auf der ganzen Welt und habe schon einige Male an langweiligen, politisch inkorrekten oder einfach nur total verrückten Diskussionen teilgenommen. Diese hat mich dagegen von Anfang an gereizt. Obwohl ich in den 70er Jahren nur 25 Kilometer von der Küste in einem Wohngebiet in der Vorstadt unweit der Innenstadt aufgewachsen war, kam mir die Vorstellung, in einer Stadt zu wohnen, nicht ganz fremd vor. Damals haben mich meine Eltern jeden zweiten Sonntag mit zum Strand genommen. Es gab an diesen Tagen kaum Verkehr, und wir konnten bequem einen halben Tag dort verbringen. Also habe ich dem Festivalkomitee gesagt: „Ja, da wäre ich gerne dabei.“

5.

Als ich einen Monat später vom Flugzeugfenster aus auf Odessa schaute, sind mir zwei Dinge aufgefallen. Das erste war der Anblick: Die pure Schönheit des Meeres. So weit, so tiefblau, so friedlich. Ich hatte schon vergessen, wie überwältigt und demütig man sich fühlt, wenn man von oben auf das Meer schaut, wie es sich allmählich zum Land hin erstreckt. Obwohl ich selbst aus einem Archipel aus 17.000 Inseln stamme, war mir das Gefühl, das einem dieser Anblick über den eigenen Platz in der Welt vermittelt, gar nicht mehr vertraut. Man fühlt sich so klein und bedeutungslos, wie ein kleines Fitzelchen im Universum.

Aber kaum hatte ich mich zurückgelehnt, um mich diesem Gefühl hinzugeben, kam mir ein weiterer Gedanke. Auf einmal wurde das Bild gestört von unzähligen befremdlichen Hochhäusern, die überall an der Küste verstreut waren und beinah einer Nachbildung des heutigen Stadtbilds von Jakarta gleichkamen. Immerhin sollte man bedenken, dass das Stadtzentrum von Jakarta, in dem damals 11 Millionen Menschen wohnten und das ein Bevölkerungswachstum von 3,7 % pro Jahr verzeichnete, im Jahr 2014 höhere Kapitalerträge für Luxuswohnungen zu verbuchen konnte als jede andere Stadt der Welt. Nur zu leicht konnte man sich vorstellen, dass Odessa mit ähnlichen Problemen zu kämpfen hatte, nämlich die schwierige Lage in Sachen Wasserversorgung, Hygiene und Transport, die durch den Klimawandel und eine stetig wachsende Bevölkerung, die gerade um immer knapper werdende und schlecht organisierte Rohstoffreserven kämpft, noch verschlimmert wird.

So überraschte es nicht, als sich später in der Diskussionsrunde herausstelle, dass unsere Städte mit den gleichen Problemen zu kämpfen haben: Korruption (für die unsere Länder beide berühmt sind), eine aufgeblähte Bürokratie (auch das trifft auf beide zu), politisch motivierte Rohstoffzuteilung und keine Planungen in Bezug auf die Frage, wie unsere Stadt sich in den nächsten 50 Jahren entwickeln sollte. Staatliche Budgets bestanden oft aus Flickeneppichen und waren anfällig für Betrügereien, die Infrastruktur (Abwassersysteme, elektrischer Strom) zeigte sich in keinem guten Zustand. Und dann gab es da noch die etwas poetischere, aber keinesfalls weniger beunruhigende Tatsache, dass beide Städte sich langsam auf das Niveau des Meeresspiegels zubewegen (und das, obwohl wir nicht in Venedig sind).

Es ist schon erstaunlich, dass einige Diskussionsrunden die Menschen viel schneller vereinen als andere.

6.

Puschkin, der von 1823 bis 1824 in Odessa lebte, beschrieb die Stadt in einem seiner Briefe als einen Ort, an dem „überall Europa in der Luft liegt, man spricht französisch und es liegen überall europäische Zeitungen und Zeitschriften zum Lesen aus“. Dieses Gefühl habe ich während meiner Streifzüge auf dem Prymorskyi Boulevard im Stadtzentrum nachempfunden, denn diese Stadt ist schließlich von der künstlerischen Handschrift eines Kardinal Richelieu geprägt, der nach seiner Flucht vor der französischen Revolution in der Armee von Katharina der Großen gegen die Türken gedient hatte und später Statthalter wurde.

Am zweiten Festivaltag unternahm ich mit einigen der Autor*innen, mit denen ich mich angefreundet hatte, einen Spaziergang durch die Stadt. Wir flanierten auch gemeinsam die nach Autoren (Puschkin, Bunin (1), Zhukosgovo (2)) benannten Straßen entlang, bis wir schließlich ins Literaturmuseum Odessa kamen, wo die meisten Veranstaltungen stattfanden.

Zu meinen neuen Freund*innen gehörte auch die griechische Romanautorin und Hauptrednerin des Festivals, Amanda Michalopoulou. Sie war einen Tag zuvor in meiner Gesprächsrunde dabei gewesen und war sehr interessiert an meiner Geschichte über die wunderschönen tropischen Inseln, die ich mit meinen Eltern als Teenager regelmäßig besucht hatte und deren beeindruckende Korallenriffe vor ein paar Jahren durch Dynamitfischerei nahezu vollständig zerstört wurden, was eine meiner glücklichsten Kindheitserinnerungen gleich mitzerstört hat.

Wir sprachen über den Tod, aber auch über das Leben, über Homer und darüber, wie die beiden jüdisch-französischen Philosophinnen Simone Weil und Rachel Bespaloff (Bespaloff war in einer ukrainisch-jüdischen Familie aufgewachsen) kurz vor Hitlers Einmarsch in Polen beide die Ilias als Quelltext für ihre wegweisenden Essays über die Menschheit und die Natur der Gewalt herangezogen hatten und wie die Mythologie uns ermutigt hat, zu verstehen, wie die dunkelsten Kapitel der Geschichte sich wiederholen.

Zuvor hatten wir mit einigen anderen Autor*innen eine Bootsfahrt gemacht. Um zum Steg zu kommen, mussten wir die berühmten Potemkin-Stufen herunterlaufen, jene riesige Treppe aus dem berühmten Film Panzerkreuzer Potemkin, der in der Vormittagssonne glitzerte. Vom Wasser aus sah die Stadt nicht so baufällig aus wie bei dem Spaziergang durch die Straßen, sie schien auf eine seltsame Art prall, lebhaft und irgendwie zuversichtlich inmitten von ausgewähltem Kitsch und monströsen Hochhäusern.

Trotz dieses historischen Glanzes und den vielen neuen Investitionen war Odessa größtenteils grau und trostlos. Wir haben nicht ein einziges asiatisches Restaurant gefunden, ganz zu schweigen von einem Ort, der guten Kaffee anbietet (dem peinlichen Sinnbild für die Lifestyle-Kultur des globalisierten 21. Jahrhunderts), und die Straßen warteten mit brüchigen Gehwegen und überquellenden Mülleimern auf.

Noch stärker fühlte ich mich jedoch an die Worte von Michael Lewis erinnert, mit denen er sein Reykjavík beschrieb: eine Stadt, die auf Bomben hockt. „Die Bomben müssen noch explodieren, aber die Zündschnüre sind bereits angezündet“ - etwas von dieser Erinnerung ist in mir hochgekommen, als ich beim Schreiben dieser Zeilen hörte, dass Russland bald Odessa angreifen würde.

„Odessa ist auch in den Dingen“, bemerkte mein Freund, der slowenische Dichter Aleš Steger. Er sagte es zwei Mal, zuerst bei einem unserer ersten Spaziergänge durch die Stadt und als wir uns am Ende des Festivals voneinander verabschiedeten. Er glaubt daran, dass „Dinge“ auch außerhalb des physikalischen Raums existieren, etwa wenn wir uns Dinge herbeisehnen. Diese bestehen dann aus spirituellen Eigenschaften, die uns wichtig sind, aus dem, was Sinn und Unsinn erschafft, was autonom ist und für sich selbst steht, abseits von unseren Narrativen und Intentionen. Aus diesem Grund seien solche „Dinge“ stärker und dauerhafter als menschliches Vergessen und Zerstörung. „Wir können Objekte, Dokumente und Spuren zerstören“, so Steger, „aber bestimmte ‚Dinge‘ und ‚Odessas‘ können wir nicht zerstören.“

7.

Eine der ersten Antworten, die ich auf meine verzweifelten Nachrichten an meine Freunde und Freundinnen auf der ganzen Welt erhalten habe, in denen ich gewarnt hatte, dass Odessa bald vernichtet werden würde, kam von Amanda. Sie schickte mir ein Foto, auf dem wir am Fuß der großen Treppe vor dem Literaturmuseum Odessa sitzen, jenem einzigartigen literarischem Schrein, so dass sofort ganz viele Bilder in meinen Kopf schossen.

Die Räume, die Gorky, Mayakovsky und Anna Akhmatova gewidmet sind. Der gold-grüne Raum, in dem sich alles über Puschkin findet. Der goldene Saal, der erhabenste von allen, wo ich gesessen hatte, nachdem ich mit dem deutschen Kritiker Michi Strausfeld über meinen Debütroman gesprochen hatte und genüsslich in alten aufgerollten Manuskripten stöberte, die neben dem riesigen Klavier auf großen Tischen ausgebreitet waren (der Saal ist angeblich die beste Konzerthalle der Stadt. Mein verstorbener Vater, der während seiner Studienzeit in Berlin recht gute Geige spielte, hätte sicher gerne hier David Oistrakh erlebt, der hier regelmäßig auftrat).

Die Mitglieder der „Odessa Schule“, jene russischen Schriftsteller*innen des beginnenden 20. Jahrhunderts, die den Begriff „Odessa-Sprache“ erfunden hatten, eine Mischung aus Russisch, Ukrainisch, Jüdisch, Deutsch, Polnisch, Griechisch und Italienisch, waren alle in einen Raum gepackt, offenbar wegen ihres marginalen Daseins im sowjetischen Regime: ein bisschen Kataev hier, ein wenig Ilf und Petrov dort. Nicht einmal einem Isaac Babel, dem Lieblingskind der Stadt Odessa, wird hier viel Platz eingeräumt.

Obwohl es inzwischen ein wenig in die Jahre gekommen ist, ist das Museum einst pompös eröffnet worden: Zum Leben erweckt wurde es 1898 als die Odessa Literary Artistic Society („literarisch-künstlerische Gesellschaft Odessa“) im Palast von Prinz Gagarin, doch erst im Jahr 1977 wurde diese durch die einzigartige Vision von Nikita Brygin schließlich zum Museum umgestaltet. Als ehemaliger KGB-Mitarbeiter nutzte dieser geschickt seine Kontakte, um im schwierigen Umfeld eines unterdrückten Regimes ein authentisches Literaturhaus entstehen zu lassen.

Obwohl das Museum erst 1984 den Besucher*innen zugänglich gemacht wurde, war es schon immer beeindruckend: Es präsentierte die Werke von rund dreihundert Schriftsteller*innen, die alle eine ganz eigene Beziehung zu Odessa hatten: renommierte und avantgardistische, Autor*innen, die die Stadt nur besuchten oder solche, die hier geboren wurden.

Dennoch gab es einiges zu beanstanden. „Ich wünschte, die Decken würden endlich einmal gemacht werden“, hörte ich jemanden vom Museumspersonal sagen, als ich mich anschickte, mit Michi das Gebäude zu verlassen, „aber der Staat hat ja kein Geld für uns.“

Inzwischen wird die Sorge um die marode Decke von der Horrorvorstellung überschattet, dass sämtliche Schätze des Museums verloren gehen könnten, wenn Putin Odessa attackiert. Und was ist mit dem Bestand der 54 öffentlichen Bibliotheken, die in der ganzen Stadt verstreut sind, und dem beträchtlichen Erbe moderner jüdischer Literatur, das in der jüdischen Bibliothek der Stadt aufbewahrt wird? Das kulturelle Erbe ist oft das letzte, das im Krieg als rettungswürdig erachtet wird und eins der am schwersten zu schützenden Güter.

Dennoch habe ich auch viele bleibende Erinnerungen an das Festival, etwa die Abende, wenn die Dichterinnen und Dichter ihre Werke vortrugen. Diese lasen zuerst ein Gedicht in der Originalsprache, dann haben wir alle einem Schauspieler zugehört, der es auf Russisch und Ukrainisch vorgetragen hat. Es war einer der bewegendsten Momente meines Lebens, eines meiner Gedichte auf diese Art vorgetragen zu bekommen. Obwohl ich keine der beiden Sprachen spreche und auch wenig von dem „Sprachkrieg“ weiß, der gerade vorherrscht, so fand ich beide wunderschön.

Jemand flüsterte, dass Ukrainisch bestimmte Ähnlichkeiten mit der polnischen Sprache aufweist, aber in meinen Ohren, die immerhin klassische Musik studiert haben (und meinem wodkagetränkten Herz) empfand ich diese Sprache einfach als besonders melodisch. Schließlich heißt es „Ich werde Deine Verrücktheit preisen, und / in einer Sprache, die nicht meine ist, sprich / von einer Musik, die uns aufweckt, einer Musik / in der wir uns bewegen.” (3)

Und natürlich haben wir nach diesen Vorträgen auch immer getanzt, wie es die Menschen in Odessa nun einmal tun, um „nicht zu fallen.“ (4)

Was jedoch noch wichtiger ist: Diese sechs außergewöhnlichen Tage haben mir einen Einblick in die ukrainische Seele gegeben, ihren Widerstandsgeist, den Selenskyi gerade in einer Fernsehrede als „Freiheit und Herz“ bezeichnet hat, als er seinem Volk vom schwindenden Kampfgeist der Russen berichtete. Und ich habe gelernt, dass es auch bei Schmerz und bei Trauer am Ende um Sprache geht, um das Versagen der Sprache und dem Greifen nach Sprache. (5)

Von jetzt an kommt die Frage, was wir am 24. Februar gemacht haben, der Frage gleich, was wir am 11. September getan haben - oder bei anderen Nationen bzw. Menschen, die echte Kriege erlebt haben (egal, ob es diese in die Geschichtsbücher, die Fernsehnachrichten oder die Tik Tok Kanäle dieser Welt geschafft haben), der Frage nach jenem Tag, als der Krieg begann. Im Falle der Ukraine (bzw. für diejenigen unter uns, die so privilegiert sind, dass sie um den Schmerz, die Tapferkeit und Würde der Stadt wissen: Odessa): Wir werden weder bestimmte „Dinge“ noch den Ort selbst vergessen.

Wir können es nicht und wir wollen es nicht. Oder, wie es die dort geborene Rachel Bespaloff formuliert hat: „Manchmal gelangt man (und frau) erst im Moment der Zerstörung zur größten Klarheit. (6)“

“… Die Stadt erzitterte,
ein Geisterschifft stach in See.
Nachts wachte ich auf und flüsterte: ja, wir waren am Leben. Wir lebten, ja, sage nicht, es war nur ein Traum.”
(7)

Zeilen wie diese leben in der Erinnerung, genau wie Gedichte und Orte, die unsterblich sind.

9. März 2022
#febr24
 

Autorin

Laksmi Pamuntjak
© Jacky Suharto
Laksmi Pamuntjak (* 1971) ist eine bilinguale indonesische Autorin, deren Werke international veröffentlicht werden. Sie schreibt unter anderem für den Guardian, die South China Morning Post, die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung und Kulturaustausch detaillierte Artikel über Kultur und Politik.

Ihr Debütroman Alle Farben Rot hat den LiBeraturpreis 2016 gewonnen. Die Filmfassung ihres zweiten Romans Aruna dan Lidahnya („Der Gaumen der Vogelfrau“), der auf Netflix zu sehen ist, feierte beim Internationalen Filmfestival Berlinale 2019 Premiere.

Ihr erster englischer Roman Fall Baby, der bei Penguin Random House Südostasien erschienen ist, hat 2020 den SingaporeBook Award in der Kategorie „bestes literarisches Werk“ gewonnen. Der Podcast Kitab Kawin, der auf ihrer gleichnamigen Kurzgeschichtensammlung basiert, die zum Bestseller avancierte (Kitab Kawin, The Book Of Marriage and Mating, „Das Buch über Heirat und Paarungsverhalten“), ist seit 2021 auf Spotify zu hören.

Pamuntjak hat darüber hinaus drei Gedichtsammlungen - Ellipsis („Ellipse“, 2005), The Anagram („Das Anagramm“, 2007) und There Are Tears In Things: Selected Poems by Laksmi Pamuntjak 2001 - 2016 („Da sind Tränen in den Dingen: Ausgewählte Gedichte von Laksmi Pamuntjak 2001 - 2016) - sowie vier Ausgaben der preisgekrönten Reihe Jakarta Good Food Guide veröffentlicht.

Sie lebt derzeit in Jakarta.

Endnotes:
  1. Der Kurzgeschichten-Autor Ivan Bunin erhielt 1953 als erster Russe den Nobelpreis für Literatur.
  2. Vasily Andreyevich Zhukovsky, der als einer der Mentoren Puschkins gilt.
  3. Diese Zeilen stammen aus den 7. und 8. Strophen von Author’s Prayer, in: Ilya Kaminsky, Dancing In Odessa (Massachusetts: Tupelo Press, 2004).
  4. Sechste Strophe von In Praise Of Laughter („Ein Lob auf das Lachen“), op. cit.
  5. Chimamanda Ngozi Adichie, Notes On Grief („Gedanken zur Trauer“, New York: Knopf, 2021).
  6. Ich paraphrasiere hier Rachel Bespaloffs tief berührendes Essay On The Iliad („Über die Iliad”), in: Simone Weil and Rachel Bespaloff, War And The Iliad (New York: New York Review Of Books, 2005).
  7. Aus Dancing In Odessa, in: Ilya Kaminsky: Dancing In Odessa (Massachusetts: Tupelo Press, 2004).

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