Deutsche Saison | Interview
Sebastian Matthias

Sebastian Matthias
© Dinyah Latuconsina


Sebastian Matthias im Gespräch mit Dinyah Latuconsina
vom Goethe-Institut in Indonesien

Erzählen Sie uns ein wenig über sich und wie es dazu gekommen ist, dass sie in den USA studiert und gearbeitet haben.

Meine Familie ist nicht gerade das, was man eine typische Künstlerfamilie nennen würde: Mein Vater ist Architekt und meine Mutter Lehrerin. Ich bin der Einzige in der Familie, der eine künstlerische Karriere eingeschlagen hat. Ich habe bereits im Alter von sechs Jahren angefangen zu tanzen und bin bei mehreren Auditions in München, Den Haag und Paris gewesen. Dass ich letztendlich in New York gelandet bin, war eher Zufall. Alfredo Corvino, ein ehemaliger Lehrer an der Juilliard School und zudem Probeleiter bei Pina Bausch, kam zum Unterrichten von New York nach Wuppertal und gab eine Meisterklasse an der Folkwang Hochschule in Essen. Zu der Zeit habe ich gerade an einer Rekonstruktion eines Stücks von Kurt Jooss gearbeitet, das verschollen war. Corvino hat gemeinsam mit Jooss getanzt. Er gab mir seine Visitenkarte und sagte, die Juilliard School könne der richtige Ort für mich sein. Es stellte sich heraus, dass es dort eine Summer School gab und dass seine Tochter Lehrerin an der Julliard School war und darüber hinaus dieses Programm leitete. Es gab noch einen freien Platz und ich bekam ein Stipendium. Ich hatte eigentlich auch noch ein Angebot an einem Konservatorium in Paris. Ich hatte nur zwei Tage, um mich zu entscheiden. Es war wirklich verrückt.

Warum also die Juilliard?

Weil das Programm dort länger war. In der Juilliard geht es wirklich ums Lernen; du musst viele Klassen belegen: Komposition, Ballett, Tanzkomposition. Das Programm in Paris war eher so etwas wie ein Junior Ballett. Ich glaube, damals war Lernen genau das, was ich machen wollte. Ich war noch nicht wirklich daran interessiert, einen Job zu haben.

Was hat Sie zum Zeitgenössischen Tanz gebracht?

Ich war nie in dieser „Ausschließlich Ballett“-Situation. Es war immer Ballett in Beziehung zu etwas Zeitgenössischem. Ich bin durch einen Prozess gegangen, in dem Ballett für mich mal mehr, mal weniger interessant war. Ich habe am Staatstheater Nürnberg und später für anderthalb Jahre bei Hubbard Street Dance Chicago getanzt. Danach war ich ziemlich verärgert über den Tanz. Ich wollte aufhören und ging zurück nach Europa. In acht Monaten habe ich viele Orte besucht. Es war reiner Zufall, dass gerade das erste Master-Programm zu Tanztheorie in Deutschland eingeführt wurde. Sie nahmen mich an, obwohl ich nur einen amerikanischen Bachelor hatte. Dort fand ich meine Liebe zum Tanz und zum Spannenden an dieser Kunstform wieder.

In was für einer Phase befinden Sie sich momentan als Künstler? Welche Themen möchten Sie gerne weiter erkunden?

Ich schätze, gerade interessiert mich vor allem die Choreographie von Beziehungen. Was ist ein Publikum? Wer bin ich, wenn ich Tanz anschaue? Warum schaue ich mir Tanz an? Welche Entscheidungen treffe ich, wenn ich Tanz anschaue? Inwiefern können diese Entscheidungen transparent sein? Mich interessieren Performance und Versammlung. Es ist etwas Besonderes, wenn sich so viele Menschen für rund eine Stunde gemeinsam in einem Raum aufhalten. Wie kann dies produktiv und ästhetisch sein? Wie können wir einander unterstützen?

Was sind Ihre Praktiken als zeitgenössischer Choreograph?

Meine Tänzer und ich haben eine gemeinsame Praxis: Wenn wir in einem Entwicklungsprozess sind, beginnen wir mit Forschungsfragen, auf die wir uns alle einigen können. Wir diskutieren die Themen, die ich anbiete. Diese kommen aber meistens schon aus einem vorherigen Prozess, sie sind also gar nicht wirklich meine Themen. Wir rotieren zwischen dem „drinnen“ und „draußen“ sein, sodass wir sowohl den Produktions- als auch den Rezeptionsprozess aushandeln können. Jede/r schreibt, analysiert, tanzt und erprobt die Antworten auf unsere Ausgangsfragen. Alles Material wird aus kollektiven Prozessen und kollektiven Körpern konstruiert.

Wie würden Sie Ihre Beziehung zu Ihren Tänzern und dem Publikum in ihren Stücken während einer Performance beschreiben?

Na ja, die Beziehung ist eigentlich sehr ähnlich. Wir arbeiten mit einer Gruppe von Menschen, die wir „Scouts“ nennen. Tänzer können Publikum sein und das Publikum kann Performer sein. Mich interessiert das Spektrum all dieser Möglichkeiten zwischen dem Publikum und den Performern. Wir fällen Entscheidungen. Es gibt künstlerische Entscheidungen sowohl für die Performer als auch das Publikum. Es geht darum, wie ihre Positionen währen der Show ausgehandelt werden. Es geht nicht darum, jeden im Raum zu einem Performer zu machen.

Erzählen Sie ein wenig über die Serie „Groove Space“, insbesondere die Performance, die Sie in Jakarta planen.

Die Serie „Groove Space“ schafft ein neues Performance-Format mit verschiedenen Kooperationspartnern in den jeweiligen Städten. Jede neue Umsetzung des Konzepts basiert auf der Erforschung der individuellen „grooves“ der Städte. In Zusammenarbeit mit lokalen Musikern und Komponisten, bildenden Künstlern sowie Licht- oder Kostümdesignern wird eine Version des Stückes entwickelt, die spezifisch ist für diese Stadt. Ich habe in Jakarta wirklich interessante Persönlichkeiten getroffen, weiß aber noch nicht, wie die Jakarta-Version aussehen wird. Was ich aber nach ein paar Tagen in Jakarta schon weiß ist, dass mich die Verkapselung der Menschen und ihre Zurückgezogenheit in diesem großen, stark bevölkerten Raum interessiert und wie sich dies immer wieder wiederholt, transformiert und gestaltet. Ich denke, dass dies der Ausgangspunkt der Choreographie sein wird.

Sie haben oft erwähnt, dass das Publikum bestimmte Verpflichtungen sowie eine Wahl hat und sehen die Tanzperformance als eine kollektive Praxis. Diese Aussagen sind für mich, als Einwohnerin Indonesiens oder genauer gesagt Jakartas, äußerst relevant. Wir versuchen gerade, genau diese Art von Aktionen in unserem täglichen Leben umzusetzen, gemeinsam als Mitglieder einer post-diktatorischen Gesellschaft.

Sie haben Recht, das verstehe ich. Meine Diskussionen mit den Künstlern in den letzten paar Tagen waren die politischsten Unterhaltungen, die ich je geführt habe. Die Menschen sprechen über ihre Regierung und ihre Hoffnungen als ein Teil der Gesellschaft, aber für uns ist es momentan interessanter herauszufinden, welche Art von Kollektivität wir heutzutage haben. Gibt es andere Formate des „Kollektiv-Seins“? Die Idee einer Nation in dieser globalisierten Welt, mit der wir heute konfrontiert sind, macht für mich keinen Sinn mehr. In meinem sehr kleinen Mikrokosmos eines Tanzperformance-Projekts versuche ich, andere Antworten darauf zu finden.

Letzte Frage: In einer sehr offenen Performance wie der Ihren, sind Sie wirklich auf alles vorbereitet? Sollte jemand versuchen, die Performance zu stören, würden Sie die Performance abbrechen?

Ein Tanz geht in unserem Fall weit über Sprache und Text hinaus. Als Performer kann man nie komplett vorbereitet sein. Bis jetzt haben wir aber nie einen Moment gehabt, an dem wir hätten eingreifen müssen. Unser Publikum kann zum Tanz beitragen. Jeder kann sich entscheiden, es zu erleben. Gleichzeitig haben die Performer auch die Wahl. Sie können entscheiden, mit dem Publikum zu interagieren oder es auszublenden. Tänzer sind weder Puppen noch Instrumente für die Wünsche des Publikums. Ich werde mich nicht aufregen, wenn jemandem meine Performance nicht gefällt und versucht, die Show zu boykottieren. Vielmehr wird es den „Groove“ der jeweiligen Show für jedermann bereichern. Das ist das Risiko, das ich eingehe, und dieses Risiko muss akzeptiert werden. Wenn ich die Entscheidungen des Publikums nicht erst nehme, machen ihre Entscheidungen keinen Unterschied.


Dieses Interview erschien zuerst auf der Webseite der Tanzconnexions/Sebastian Matthias.
 

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