Literatur | Essay
Andreas Stichmann / Makassar Race 2015

Andreas Stichmann © © Goethe-Institut Indonesien / Andreas Stichmann Andreas Stichmann © Goethe-Institut Indonesien / Andreas Stichmann


Makassar Beach, 06.06.2015

Zähl von zehn abwärts und nimm die Hand von den Augen. Und dann sei Gufa, Sohn eines Fischers, geboren in Makassar. Segelohren. Blaues Hemd. Leise Stimme. Angenehme, inwendige Männlichkeit. Das Morgengebet um halb sechs, die Suppe zum Frühstück - der Tag hat begonnen. Du stehst barfuß im Schlick und winkst deinen Freunden zu, die auf dem Steg sitzen, einer schaut in sein Smartphone, der andere gibt ein Handzeichen, das du nicht verstehst. Du machst vorsichtig das Boot los. Leckst dir über die salzigen Lippen. Schaust ins Morgengrauen, das wie ein orangefarbenes Gehirn am Horizont leuchtet. Machst, weil es so komisch aussieht, ein Foto davon, postest es auf Instagram, schreibst brain darunter. Setzt dich auf die Holzbank und bedienst das Steuer, während der Motor, der nicht mehr der Jüngste ist, in die Gänge kommt. Soweit.

Siehst du, wie der Müll im Sonnenschein wogt? Siehst du, wie der Fremde, der bei dir im Boot sitzt, so dümmlich guckt? Und nervös in seinen Notizblock kritzelt? Als wollte er dich zeichnen?
Bleich. Langnasig. Anglerhut auf dem Kopf. Drängt sich einem da einfach so auf. Erzählt etwas über eine deutsche Zeitung, für die er etwas schreibt, und dann fragt er hektisch, fragt dich aus, ob dein Urgroßvater schon Fischer gewesen sei? Ob deine Familie sehr konservativ sei, und wenn ja, auch mit Schlägen? Ob es stimme, dass ein Riss durch die Generationen gehe? Dass mancher junge Mann zum Ärger seines Vaters in die IT-Branche gehe, anstatt Fischer zu werden? Ob es stimme, dass eine gewisse Verwestlichung um sich greife?

Du lächelst. Du machst ein undurchdringlich freundliches Gesicht. Und wenn du eine Frage nicht verstehst, lächelst du noch breiter. Harmonie, Harmonie, Harmonie. Und dabei inwendig sein, zurückhaltende Körpersprache, immer leiser und weicher werden, wenn der andere energischer wird. Und die Freundlichkeit ist es auch, die er dir jetzt gebietet, den Motor abzustellen, so kannst du besser auf die Fragen eingehen. Die dich vielleicht nerven. Aber würdest du das zeigen? Würdest du auch nur eine Sekunde aufhören, zu lächeln, würdest du je genervt dreinschauen? Biete dem Fremden eine parfümierte Zigarette an. Biete ihm ein Fruchtbonbon an. Und noch eine parfümierte Zigarette. Was will er denn wissen? Ob es stimmt, dass sich die jungen Leute am Steg über die Grammyverleihung in Los Angeles unterhalten. Das will er wissen. Ob er das richtig verstanden habe? Ja. Naja. Kann sein. Warum sollte man sich nicht über die Grammyverleihung in Los Angeles unterhalten? Unterhält man sich in Deutschland nie über die Grammyverleihungen in Los Angeles?

Ihr fahrt weiter. Dem Strand von Pulau Laelae zu. Ihr seht den Möwen zu, die über dem trüben Wasser kreisen. Der Bürgermeister Unggul wartet schon am Ufer der Insel, er wird größer und größer und ist dann plötzlich Teil der Kommunikationssituation, die etwas klemmt. Er trägt einen schwarzen Jogginganzug. Neben ihm: Die riesigen Säcke voll Plastikmüll, die man neuerdings sammelt, weils Geld dafür gibt. Interessiert den Deutschen? Natürlich. Müll interessiert den Deutschen. Er steigt aus und schüttelt Unggul die Hand. Und Unggul zuckt zusammen, weil er offensichtlich nicht drauf vorbereitet ist, weil er wohl noch nicht weiß, dass das normal ist bei einem Deutschen: Schraubstock-Handgriff. Tiefer Blick in die Augen. Überoffensive Körpersprache zur Begrüßung: NEISS TU MIET JU!

Die Sonne steht jetzt hübsch über den Palmen. Unggul erklärt: Ja. Das Fischerboot diene Dienstags immer als Müllabfuhr. Ja. Präsident Jakobi sei ganz okay, zumindest wohlmeinend, die Dinge verändern sich, soweit er das sagen könne, nicht zum Schlechten. Aber nein, das mit dem Müll hänge nicht mit dem Präsidenten zusammen. Das habe man hier selber so entschieden auf der Insel. Der Deutsche daraufhin: Tree Makassi for the information, und Unggul: Youre welcome, und dann lachen Unggul und der Deutsche zusammen, bevor Unggul beten geht. Und der Wind pfeift in den leeren Plastikflaschen, die wie Flötenhälse aus den Plastiksäcken gucken. Und die Kokosnüsse an den Palmen schauen zu euch herunter, so sagt man ja. Jede hat unten ein schwarzes Auge, damit sie niemandem auf den Kopf fallen, wenn sie fallen. Und das freut den Deutschen. So kann niemandem was passieren. Und weil er dich jetzt etwas ruhiger ansieht, und weil du weißt, dass er wissen will, wie es ist, hier zu wohnen, sagst du, weil du helfen willst: Vielleicht ein gewisses In-den-Tag-hinein-driften. More relaxed. Vielleicht, dass wir mehr Zeit haben als ihr, dass wir alles langsamer machen, jaja, das ist wohl wahr. Und fügt, defensiv, hinzu: Vielleicht, dass wir alles etwas zu langsam machen. Während ihr Deutschen ja so fleißig seid?

Ihr arbeitet.

Ihr ladet die Müllsäcke ins Boot. Ihr esst die salzigen Bananen, die nach getaner Arbeit von Ungguls Frau gebracht werden. Sie heißt Sha und lächelt (wie sonst?) inwendig - mit diesem inwendigen Selbstbewusstsein. Der Deutsche nimmt seinen Anglerhut ab und sagt etwas zu laut in ihr Gesicht hinein, so wie man in einen Trichter spricht: I LIKE THIS SALTY BANANAS. Sie bedankt sich und geht. Und ihr fahrt zurück?

Nee.

Jetzt kommen die Grundschulkinder aus der Schule gelaufen und entdecken den Deutschen, und der sagt, die kenne er schon von gestern, die hätten eigentlich gestern schon Fotos mit ihm gemacht, aber es muss wohl nochmal sein: Sie umringen den Deutschen. Sie wickeln sich um seine Beine und haken sich links und rechts bei ihm ein. Und er friert fest mit seinem Lächeln. Er steht und steht. Er versteht nicht, dass er sich aktiv lösen muss, damit sie ablassen. Instagram, Facebook, Pinterest: Fotofotofotofoto.
Glücklicherweise kommt Unggul zurück. Er hat sich inzwischen ein Hemd und eine Hose angezogen, und hinter ihm kommt ein etwas jüngerer Mann, der den schönen Namen Irwan trägt. Er ist stämmig, trägt einen Dreitagebart und einen grauen Businessanzug. Sehr kräftig schüttelt er dem Deutschen die Hand. Er wohne in Texas. Er sei grade zu Besuch zuhause. Heute Abend finde eine kleine Party im Hause seines Bruders statt. Alle Anwesenden seien eingeladen. Kinder eingeschlossen. Die Party beginne um neun Uhr. Ungefähr.
 
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Makassar, 22:30 Uhr

Zähl von zehn abwärts, nimm die Hand von den Augen und sei der Deutsche. Befinde dich hinten auf einem Motorrad, auf dem sich vorne Gufa befindet, der junge Mann, der sich schon den ganzen Tag aufopferungsvoll um dich kümmert. Du versuchst, seiner Fahrkunst zu vertrauen. Du versuchst, das Adrenalin zu genießen, während ihr über die Strandpromenade rast. Du hältst dich gut fest. Du schließt das Visier. Du versuchst, keine Angstschreie rauszulassen, als ihr auf die Hauptstraße biegt. Der Verkehr ist ja immer so, Gufa weiß ja sicher, wie man in diesem Verkehr überlebt? Trillerpfeifen. Hupen. Aufheulende Motoren. Und ihr beschleunigt nochmal, stadtauswärts, an den ineinander verwachsenen Häusern vorbei. Bananenbäume. Plastikzeugshops. Und, tatsächlich: Eine Minarett-Fabrik. Sieht aus wie ein Miniaturstädtchen aus Märchentürmen. Oder ist es eine? Und es geht in die Kurve. Und es geht noch schärfer in die Kurve. Und Frauen mit wehendem Kopftüchern schießen telefonierend auf Motorrädern vorbei. Und ein Mann, der ein Kind im Arm hält, während er einhändig fährt. Aber der Verkehr ist ja immer so hier, du kannst Gufa ja vertrauen?

Du schließt die Augen. Du befindest dich ganz in dem Helm, den Gufa dir überlassen hat. Du machst etwas, das so ähnlich ist, wie beten. Oder ist es Beten? Solltest du mit Gufa übers Beten reden?
Ihr haltet. Ihr kommt plötzlich irgendwo an und der Helm wird dir mit einem Plopp-Geräusch vom Kopf gezogen. Heißer Schweiß läuft dir den Nacken runter. Um euch herum: Nacht. Es gibt ein paar Sterne, die sich irgendwie durch den Smog gekämpft haben. Und es gibt, nach wie vor, Gufas bartloses, sanftes Gesicht, das dir inzwischen vertraut ist. Es wirkt völlig entspannt, als habe er grade ein Nickerchen gemacht. Du sagst: Ihr habt mehr Zeit, Gufa? Wieso rast ihr denn so, wenn ihr angeblich mehr Zeit habt? Ist es nicht eher Fatalismus? Arglosigkeit? Seid ihr nicht einfach total schicksalsergeben? Verrückt?
Aber er ist schon vorgegangen. Er ist zu den Stimmen hin, die sich in der Dunkelheit bewegen. Er ruft dich zu sich und ihr betretet einen Garten: Etwa zwanzig Menschen sitzen dort auf Teppichen, Männer und Frauen in allem Altersstufen, mit Kopftüchern und ohne, in bunten Gewändern oder Jeans. Sie schauen dich an, als hätten sie dich erwartet. Aber da ist niemand, der sich persönlich vorstellt, wäre wohl zu aufdringlich? Wahrscheinlich. Also machs auch nicht. Dräng dich nicht auf. Vielleicht, dass du den Gruppenrhythmus verstehen kannst? Du lässt dich auf einem Sitzkissen nieder. Du siehst in Gesichter, die alle die exakt gleiche Temperatur zu haben scheinen, als gehörten sie ein und demselbern Wesen an, das hier friedlich lagert. Oder kommt es dir nur so vor? Gibt es minimale Unterschiede im Sanftheitsgrad der einzelnen Menschen? Sticht das nur nicht so heraus? Sind es eigentlich beinharte Individualisten?

Es eher ein Wald als ein Garten, bemerkst du jetzt. Eine Art Unterwassersituation. Die Lampions in den Bäumen spenden bläulich-milchiges Licht. Die Kronen der Bäume gleichen Pflanzen, die von Wasser hin und her bewegt werden. Soaptrees, erklärt dir ein Mädchen namens Dwy. Tatsächlich riechen sie nach Balsam oder Anis oder etwas in der Art. Und das Mädchen Dwy guckt dich mit großen Augen an und fragt, ob du Alkohol willst, wie ihn ein paar der jungen Männer dort drüben trinken?
Ja, der Deutsche wolle sicher Alkohol, heißt es jetzt von allen Seiten, und ein bisschen Bewegung entsteht, und aus der Gruppe heraus wandert ein großes Glas voll starkem, selbstgemachtem Kaffeelikör zu dir. Im Supermarkt kriegt man seit drei Monaten kein Alkohol mehr, wie du hörst. Die Hälfte der Gruppe findet es gut, die andere nicht, und du denkst: Also doch, klar unterscheidbare Meinungen, wenn auch in einem versöhnlichen Ton vorgetragen. Und nicht leicht zu verstehen, weil sie immer übersetzt werden müssen. Das besorgt das Mädchen Dwy. Das ist überhaupt ganz erstaunlich. Elf Jahre alt und perfektes Englisch, besser als Gufa und du und alle anderen hier, und so reflektiert sprechend, dass man meint, es mit einer fünfzigjährigen Psychologin zu tun zu haben. Sie sitzt da wie ein kleiner Pinguin mit ihrem Kopftuch, mustert dich mit ihren verstörend klugen Augen, und übersetzt die Antworten der Erwachsenen, die sie anscheinend eher langweilen. Nach einer Weile ebben die Antworten der Erwachsenen ab, und sie rückt näher zu dir, mit ihrem Gesicht, in dem steht: Noch Fragen?

Du: Beten. Warum betest du, Dwy?
Dwy: Oh, das mach ich nur für mich. Ich glaube an die Praxis des Betens. Du musst dir das als eine Konzentrationsübung vorstellen, eine mentale Praktik, die man nicht ausschließlich spirituell begreifen muss. Es strukturiert meinen Tag, weißte? Es sortiert den Geist. Sollteste auch mal probieren!
Du: Öh, ja, aber geht das denn? Muss man nicht... also, man muss doch schon...
Dwy: Gläubig sein? Ist schon ganz gut. Aber du kannst es auch nur für dich selbst machen. Du siehst ein bisschen durcheinander aus?
Du: Du meinst, ich... ich könnte auch... fünfmal am Tag?
Dwy: Guck mal, jetzt hält mein Vater eine Rede. Er redet immer gerne, weißte?

Der Geschäftsmann Irwan Rusmini aus Texas ist aufgestanden und hat eine Hand gehoben. Er spricht in ein kleines Mikrofon und geht hin und her, wie amerikanische Präsidentschaftskandidaten beim Fernsehduell. Er steckt sogar kurz eine Hand in die Hosentasche beim Reden, reibt sich lässig über den Dreitagebart, der sowieso ganz untypisch ist. Es handelt sich, wie Dwy übersetzt, über eine Firmenjubiläums-Dankesrede. Er verschenkt Handyhülsen und USB-Sticks an die Kinder der Menschen, mit denen er aufgewachsen ist. Er erzählt von der neuen App, die seine Firma entwickelt hat, und bei der es darum gehe, die Lücke zwischen Tradition und digitalen Medien zu schließen. Makassar Race 2015. Eine Art Schnitzeljagd-App, mit der man spielerisch die Geschichte eines Ortes erleben kann. Die App führe, übersetzt Dwy, zu allen kulturell aufschlussreichen Orten der Umgebung. Wenn man die Fragen zur Geschichte richtig beantwortet und die Aufgaben löst, habe man nicht nur etwas gelernt, sondern auch die Chance auf einen sechsmonatigen Aufenthalt in Texas gewonnen. Dieses Prinzip nenne man Gamification. Das sei jetzt so ein Zukunftsbegriff.

Und der Geschäftsmann Irwan Rusmini erklärt, jetzt auch auf Englisch: Er wolle etwas zurückgeben, weil er so reich beschenkt worden sei! Zukunft und Vergangenheit, Osten und Westen, Geben und Nehmen seien (und er schaut mit präsidentialem Ernst in die Runde) vereint in dieser App, die er allen Anwesenden schenke - und es würde ihn sehr freuen, einen der Anwesenden bald bei sich in Texas begrüßen zu dürfen.
Am Ende sagt er nicht Thank You, sondern Tree Makasssi, weil das, wie Dwy übersetzt, schöner sei und viel mehr bedeute als das triste Thank you. Nämlich was? Was bedeutet Tree Makassi?
Aber zu dem Zeitpunkt ist es schon so, dass du betrunken bist, benebelt von der Hitze und dem scharfen Essen - und der Kaffeelikör hat es wirklich in sich gehabt. Alles so bunt. Grüne Lampions. Blaue. Rote. Muskatnussbäume. Die großen Eidechsen an der Mauer, die nur aufgemalt sind. Und Dwy? Dwy mit ihrem seltsam glücklichem, texanisch-indonesischem Blick?
Da ist sie wieder, doch. Im Mandelduft bei den Seifenbäumen. Und da ist auch Gufa, der auf einen Baum gestiegen ist und ihr hochhelfen will. Und du gibts Räubereiter und kletterst hinter ihr hoch, und da sitzt ihr dann gemeinsam im Baum und raucht Gufas parfümierte Zigaretten. Und Tree Makassi bedeutet: Geben und Nehmen. Und das ist schön.
 

Irgendwo über Sulawesi, 05:30 Uhr

So ein Flugzeug, das ist auch schön. Sei ein Flugzeug. Beispielsweise. Fliege durch den beginnenden Morgen. Beherberge hundertfünfzig schlafende Menschen in dir. Fliege über ein Land, das aus über siebzehntausendfünfhundertundacht Inseln besteht. Ich meine, das muss man sich mal vorstellen: Siebzehntausendfünfhundertundacht. Sei eine davon. Sei einer dieser goldenen Tupfer. Beispielsweise. Oder sei eine Wolke. Sei die Stewardess. Versetz dich in den Zustand, den Dwy dir beschrieben hat. Fantasier dich hinein. Sei ein großes, alles durchdringendes Bewusstsein. Sei der Tomatensaft. Sei das Sandwich. Sei die orangefarbene Sonne.

 

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