Literatur | Essay
..............Kokodi, kokoda

© Antje Rávic Strube © © Antje Rávic Strubel © Antje Rávic Strube © Antje Rávic Strubel


Der Hahn krähte nicht. Er äußerte sich nicht so, wie es Hähne auf der ganzen Welt gewöhnlich tun, kein Kikeriki oder Kukeliku oder cock-a-doodle-doo. Das Tier in Jogjakarta  schrie. Es stieß einen eindringlichen Kreischlaut aus. Wie Metall, in das eine Säge fährt.

Jeden Morgen war es dasselbe. Der  Hahn schrie noch vor dem Muezzin. Draussen war es dunkel, kurz vor halb fünf. Einige Minuten später setzte der anschwellende Gesang aus einer der vielen Moscheen ein, der hier melodisch klang. In Jakarta war der Muezzin so laut gewesen, als stünde er direkt am Hotelzimmerbett, und geklungen hatte er wie dieser Hahn; aggressiv, krächzend, erbost und ohne jedes Gespür für Melodik. In Jogja wartete der Hahn, bis der Muezzin sich beruhigt hatte und das Gebet begann, dann legte er wieder los.

Ich stand auf, was den keckernden Gecko, der die Nacht an der Wand über dem Kopfende meines Bettes verbracht hatte, hinter ein Bild scheuchte, ging ins Bad und schaltete das Licht ein; einen Strahler am Fuß eines Baumes. Das Licht beleuchtete den Stamm, der durch das offene Dach des Badezimmers in den Himmel ragte. Das Studio gehörte zu einer Galerie, einem zweistöckigen Gebäude aus Waschbeton, Glas, offenen Sichtachsen und einem üppig grünen Garten, das ein malayischer Architekt errichtet hatte. Von draußen kam morgenlaue Luft. Sie roch süßlich. Nach Reiskuchen. Nelkenzigaretten. Nach gebackenen Bananen, Benzin und verbranntem Plastik. Aber hier brannte kein Plastik. Jogja schien die umweltbewussteste Stadt Indonesiens zu sein. Ich hatte  bildende Künstler kennengelernt, die sich gegen die rasant wachsende Zerstörung der Regenwälder Kalimantans durch Aufforstung mit Palmölbäumen engagieren; Monokulturen, die auch ein Resultat des Trends zum Biotreibstoff sind. In Bandung allerdings hatte eine Dunstglocke aus brennendem Abfall die Berge umgeben. Jungs hockten im dicken weißen Rauch am Wegrand, schoben mit Stöcken Plastikflaschen in der Glut herum, als säßen sie am Lagerfeuer. Die giftigen Gase hielten sich lange im Kessel der Stadt.

Die Anwohner im Nitiprayan Village waren schon wach. Manche Frauen, hatte ich gehört, standen um drei Uhr morgens bereits am Reiskocher, um das Essen für den Tag vorzubereiten. Meine Straße war von anderen schmalen Straßen umgeben, ein für mich undurchschaubares, Moped-durchschwirrtes Netz aus einstöckigen Häusern, Reisfeldern, Brachland mit wilden Bananen, Werkstätten, Betonquadern, die nur einen Raum hatten und zur Straße hin offen waren, sogenannte Warungs, in denen Nasi Goreng und Sotto Ayam verkauft wurden, oder Galerien junger Künstler, die oft ebenfalls nur aus einem oder zwei mit Bambus überdachten Räumen bestanden.

Ich duschte die Ameisen von der Toilettenbrille mit dem Sprühschlauch, der neben dem Klo hing. Auch in den Zugtoiletten hatte es solche Schläuche gegeben, als ich von Jakarta nach Bandung, dann nach Jogja gefahren war, dreistündige, achtstündige Fahrten für Strecken, die auf modernen Schienen vielleicht eine und vier Stunden gedauert hätten. Die Sprühschläuche waren möglicherweise der Grund, warum die in den Boden eingelassen Hockklosetts oft von einem zehtiefen Teich umspült waren.

Der Hahn kreischte, machte eine Pause, kreischte. Als es dämmerte, setzten von überall her andere Hähne ein. Sie krähten wie jeder schwedische, kirgisische, deutsche und wohl auch brasilianische Hahn. Die Äußerungen dieses einen waren also nicht speziell indonesisch. Man konnte von ihm keine Rückschlüsse darauf ziehen, dass so, wie das Wasser in der Fremde anders schmeckt und die Luft anders riecht, eben auch Hähne hier anders krähten. Sein absonderliches Schreien musste eine andere Ursache haben.

 Becak © Antje Rávic Strube
© Antje Rávic Strubel
In der Outdoor-Küche - Kochplatte und Kühlschrank neben einem Pond mit Koifischen und einer Schildkröte - machte ich mir mit dem Wasser aus der galerieeigenen Filteranlage unter der Spüle einen Kaffee, Java-Kaffee, der nur in Maschinen gebrüht zu bekommen war. Auf den Frühstücksbüffets der Hotels, selbst der teuren, stand er stundenlang in amerikanischen Glaskannen auf Wärmeplatten, wo er dann jeden Geschmack verlor. Vom Kaffeeland Indonesien war ich enttäuscht; einzig im Java Dancer Café in Malang verstanden sie was von der Zubereitung. Hier aber hatte ich den Luxus einer alten italienischen Espressokanne, überlassen freundlicherweise von einer deutschen Journalistin, die seit siebzehn Jahren in Jogja lebte. Sie hielt an solchen europäischen Angewohnheiten schon lange nicht mehr fest. Auch wenn sie deutsch sprach, benutzte sie die bahasa-indonesischen Laute für Zustimmung: ein tiefer Ton, schnell zweimal hintereinander aus der Kehle gestoßen, einer  deutschen, lautlich geäußerten Verneinung nicht unähnlich.

Die Schildkröte hob ihr Haupt aus dem Wasser. Sie starrte mich dunkel an, schwamm mir am Beckenrand entlang nach, als ich von der Spüle zur Kochplatte ging. Der Hahn schrie. Ich war allein. Noch immer war es halb dunkel. Am schweren eisernen Tor gab es ein Wachhäuschen, das rund um die Uhr besetzt war. Ich wusste aber, dass der Mann im roten Sweatshirt - ein Neffe oder Cousin des Galeristen, alle, die hier arbeiteten, waren miteinander verwandt - gerade nicht dort sass. Es war eine der vielen täglichen Stunden des Gebets.

Der Hahn musste ganz in der Nähe sein. Ich ging eine Treppe hinauf, durch einen riesigen leeren Ausstellungsraum, der nach zwei Seiten hin offen war. Das Kreischen kam jetzt von so nah, als würde die Säge sich in meinen Körper fressen. In den Straßen hatte ich viele Hähne gesehen, sie liefen auf den Vorplätzen der Häuser frei herum. Manchmal rasten sie zwischen den Mopeds über die Fahrbahn, die langsam fahren mussten wegen der „schlafenden Polizisten“, Bremsschwellen, die jeder Anwohner vor seinem Haus in jeweils anderen Maßen baute. Vielleicht hatte der Hahn sich in die Galerie verirrt.

Gegen Tollwut war ich geimpft; eine Empfehlung in den Reise-und Sicherheitshinweisen des Auswärtigen Amts. Dort hatte nicht gestanden, was zu tun war, wenn man von einem Hahn angegriffen wurde. Kampfhähne waren keine Seltenheit. Der Hahnenkampf war auf den Dörfern noch immer ein beliebtes männliches Hobby.

Es war ein großes Tier. Leuchtende Kehlklappen. Lange Schmuckfedern. Er war in einer Voliere vor dem Hintereingang zum Büro. „Sarang“, stand darüber, „Nest.“ So hieß die Galerie. Ein Dichter hatte mir am Abend vorher dieses Wort übersetzt. Ich hatte ihn in einer Kneipe in Prawirotaman, dem Ausgehviertel, getroffen, in der es jeden Abend Livemusik gab, Rock oder Rap, Jungs, denen die Röhrenhosen um die schmalen Hüften schlackerten, die Haare oft schulterlang. Mädchen sah man so gut wie nicht. Die strikte Rollenverteilung, die der letzte Diktator propagandistisch durchgesetzt hatte, schmiegt sich gut ein in den neuen Trend eines strikten Islam; Frauen ist das Ausgehen vergällt, weil sie jederzeit als Schlampen gebrandmarkt werden können. Und in einer Gesellschaft wie der indonesischen, in der niemand jemals allein ist, in der Alleinsein als ein Übel, beinahe als Stigma betrachtet wird, in der sich jeder zuerst als Teil einer Gemeinschaft begreift, unterliegen auch Lebensentwürfe einer strengen sozialen Kontrolle. Kollektive Wertvorstellungen sind von Einzelnen kaum zu hinterfragen.  

Der Dichter fixierte mich. Warf seine Rastazöpfe mit Schwung nach hinten, die er stolz wie Schmuckfedern trug. Innerhalb von fünf Minuten stritten wir uns. Es ging um guten und schlechten Kommunismus, um Brecht und um die Buchmesse, und wir hatten beide zu viel Bier. Dann setzte die Musik ein, und wir starrten uns nur noch an wie die Kampfhähne. Als die Musiker Pause machten, sagte er, dass er auf die Buchmesse pfeife.
„Ach“, sagte ich.
 
  • Strubel | With Irwan Bajang © Antje Rávic Strubel

  • Strubel | Bajaj © Antje Rávic Strubel

  • Strubel | Bandung © Antje Rávic Strubel

  • Strubel | Hinduistische Opfergabe © Antje Rávic Strubel

  • Struble | In the Sea of Sand © Antje Rávic Strubel



„Wer die indonesische Literatur kennenlernen will, der soll nach Indonesien kommen“, sagte er.
Der Dichter war nach drei Wochen der erste, der mir so direkt die Meinung sagte. Bisher waren mir nur freundlich lächelnde Menschen begegnet. Niemand hatte etwas wirklich ernst gesagt, niemand hatte im Grunde Anderes geäußert als unverbindliches Geplauder, wie mir jetzt auffiel. Und schon gar nicht provokant. Der Dichter war kein Javaner. Er kam ursprünglich aus Sumatra, gehörte zu den Batak, denen größere Direktheit und Aggressivität nachgesagt wird als den immer netten Javanern. „Ein bißchen wie ihr Deutschen“, hatte man mir erklärt. Vielleicht war er auch einfach mutig. Denn die unverbindliche Höflichkeit der Gespräche schien nicht allein auf der berühmten javanischen Zurückhaltung zu beruhen, sondern auch von jahrzehntelang eingeübter Wachsamkeit und Furcht gespeist. Indonesien feierte in diesem Jahr zwar den 70. Jahrestag der Unabhängigkeit. Die militaristische Aufmachung dieser offiziellen Feierlichkeiten, von denen ich eine in Malang miterlebt hatte, die Aufmärsche, das Aufgebot an Panzern und Soldaten erinnerten allerdings daran, dass dieses Land noch bis 1998 unter einer Militärdiktatur gestanden hatte, der sogenannten „Neuen Ordnung.“

Nach der Kommunistenhatz, der Auslöschung der politischen Linken und den sich anschließenden, oft wahllosen Massenmorden zwischen 1965 und 1966 hatte der antikommunistische Regierungschef Suharto ein eisernes Regime geführt. Noch heute dürfen Angehörige von Opfern des Regimes keine öffentlichen Ämter übernehmen. Noch heute ist es nicht klug, kommunistische oder – ebenso schlimm - feministische Standpunkte zu vertreten, oder gar laut zu sagen, man wäre das eine oder das andere. Feminismus und Kommunismus sind das Gleiche, seit unter Suharto das Gerücht verbreitet wurde, Frauen hätten führenden Generälen beim Putschversuch die Penisse abgeschnitten. Das Gerücht wurde längst als Armeepropaganda entlarvt. Die Mehrheit aber glaubt das immer noch. Bis heute ist der Putschversuch vom 1.Oktober ’65 nicht aufgeklärt.

Was mich allerdings am meisten verwundert hatte: Selbst belesene, intellektuelle AutorInnen, die oft im Ausland unterwegs waren, gaben in unseren Gesprächen Statements ab, die so wohlüberlegt und kontrolliert waren, dass ich ans DDR-Fernsehen denken musste. Dort war immer die zensierte Version der DDR zu sehen und zu hören gewesen. Offenbar braucht jede Gesellschaft, die gezeichnet ist von einer Diktatur, auch nach dem Ende dieser Diktatur noch eine ganze Weile, ehe sie sich wieder ans freie Reden gewöhnt. Vielleicht sind mir aber auch die Feinheiten entgangen, mit denen Menschen ihre wahren Ansichten äußern, deren Kommunikation so grundlegend vom Bedürfnis nach Ausgleich und Harmonie gesteuert wird, dass sie anstelle von „nein“ lieber „später“ sagen und anstelle von „ich weiß es nicht“ - „ich weiß es nicht genau.“ Immerhin ist „Amok“ ja ein Wort, das mit malayischen Wurzeln aus dem Bahasa-Indonesischen kommt.

„Da wird jetzt so getan, als sei es das erste Mal, das sich die indonesische Literatur mit 1965 beschäftigt“, sagte der Dichter wütend. „Dabei spielt das schon lange eine Rolle. Obwohl es gefährlich war, sich mit diesem Thema kritisch auseinanderzusetzen, haben es einige schon früher gewagt. Und zwar tiefgründiger und umfassender, als in den für die Buchmesse ausgewählten, seichten Vorzeigeromanen. Und ist es nicht merkwürdig“, sagte der Dichter, „dass ausgerechnet der Mann, der für diese Auswahl verantwortlich ist, damals zum antikommunistischen Lager gehörte? Eine Farce!“

Diesmal fehlte mir das Hintergrundwissen, um zu streiten. Später begriff ich: die Wut des Dichters galt weniger der Frankfurter Buchmesse und dem allerdings zweifelhaften Auswahlverfahren, als vielmehr einer Gesellschaft, die sich ihrer Vergangenheit nicht stellt. In der die alten Eliten von Wirtschaft, Militär, Bürokratie und Politik noch immer an der Macht sind, die - im Verbund mit neuen Playern - Schicksal und Denken der Menschen weiterhin bestimmen, auch mithilfe einer korrupten Politik. Der Dichter gehört zu jenen Einzelnen, die es nicht ertragen, dass die Mehrheit darüber den angenehmen Mehltau kollektiven Vergessens senkt.

Seine Lage ist, wie man so sagt, komplex. Seit 2003 gibt es das sogenannte Technokratiegesetz, das Verleumdung unter Strafe stellt. Seit 2003 wird dieses Gesetz so großzügig ausgelegt, dass darunter jede noch so lapidare Bemerkung fallen kann, über einen Menschen, eine Wertvorstellung, eine Regierung oder Religion, sogar über eine Stadt. Eine junge Frau, die nachts an der Tankstelle kein Benzin für ihr Moped bekam, hatte aus Frust ihren Freunden getwittert, wie blöd sie Jogja fände. Dafür wurde sie verhaftet und zu zwei Monaten Bewährung und einer Geldstrafe von 10 Millionen Rupien verurteilt. Auch der Dichter war schon mehrfach im Gefängnis.

Der Hahn, das Lebendsymbol für den Namen der Galerie, lief dicht am Drahtgeflecht der Voliere entlang. Sein Kamm war geschwollen. Er rannte hin und her, eine Kralle auf der Betonkante, in die das Geflecht eingelassen war. Immer wieder hieb er mit der Kralle in den Draht, wie um ihn aufzubiegen. Die Wucht dieses Hiebs, der vom straff gespannten Käfig doppelt so stark zurückfederte, ließ ihn jedes Mal taumeln.

Das Absonderliche seines Schreis war Verzweiflung. Dieser Hahn schien noch zu wissen, was jenseits der Voliere lag.

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