Schnelleinstieg:

Direkt zum Inhalt springen (Alt 1) Direkt zur Hauptnavigation springen (Alt 2)

Judith Schalansky
Verzeichnis einiger Verluste

An Inventory of Losses (Verzeichnis einiger Verluste) von Judith Schalansky
Cover © Maclehose Press

Was geschieht, wenn etwas verlorengeht? Kann man ein Objekt wiederfinden, indem man den Spuren folgt, die es hinterlassen hat? Was bleibt, wenn Dinge verlorengehen? Diesen Fragen geht Judith Schalanskys kluges Buch „Verzeichnis einiger Verluste“ nach.

Von Prathap Nair

Eine Wunderkammer mit einem Dutzend Dinge, die für die Welt verloren sind!

Es mag unmöglich sein, all die Dinge aufzuzählen, die wir an den Zahn der Zeit, an tragische Unfälle und vielleicht auch an die kollektive Selbstsucht der Menschheit verloren haben, doch Judith Schalanskys Buch kommt auf zwölf von ihnen. Es ist eine Reise um die Welt in zwölf Kapiteln, von der Abgelegenheit des Nordostpazifik bis zu den Wäldern um Greifswald in Deutschland, die es 2021 auf die Longlist des International Booker Prize geschafft hat.

Schalanskys „Verzeichnis einiger Verluste“ entspinnt sich in Form von zwölf schwer zu kategorisierenden, eklektischen Essays, irgendwo zwischen Nature Writing, Betrachtungen zur Vergänglichkeit allen Seins und meditativen Reflexionen über verlorene Artefakte. Manche sind wundervoll erzählte Kurzgeschichten, andere kreative Neufassungen historischer Ereignisse. Doch sie alle sind scharf beobachtet, bis ins kleinste Detail ausgefeilt und oft voller Melancholie

„Eine bunte Sammlung genreübergreifender Erzählungen über Dinge, die der Welt verloren gegangen sind.“

Prathap Nair über das Buch „Verzeichnis einiger Verluste“

Man sollte nicht denken, es handelte sich lediglich um eine Dokumentation von Dingen, die der Menschheit abhanden gekommen sind; das Buch spielt darüber hinaus mit Neuinterpretationen der Ereignisse, die mit dem Verlust in Verbindung stehen und erzählt davon, was übrig bleibt. Obwohl das „Verzeichnis“ im Titel nach einer Liste klingt, handelt es sich viel mehr um eine atmosphärische Erkundung des Verlustes.

Das Buch ist wunderschön gearbeitet, mit einer Titelseite im goldenen Prägedruck vor einem Hintergrund, der an grobe Leinwand erinnert.  Diese hochqualitative Gestaltung liegt an Schalansky selbst, die im Zweitberuf Buchgestalterin ist. Die Kapitel sind jeweils genau sechzehn Seiten lang und durch dunkelgraue Zwischenseiten mit themenbezogenen Abbildungen voneinander getrennt.

Ein Kuriositätenkabinett

Eine Rezension bezeichnete das Buch als Kuriositätenkabinett, als Wunderkammer der unterschiedlichsten Dinge. Unter ihnen finden sich: die südlichen Cook-Inseln (Tuanaki), der Kaspische Tiger, das Guericke-Einhorn, die Liebeslieder der Sappho, die sieben Bücher des Mani und der Palast der Republik. Es geht um den Verlust von Orten (die Inseln), von Arten (der Tiger), bis hin zu dem von literarischen Werken (die Lieder der Sappho), Filmen (Der Knabe in Blau) und Bauwerken (Villa Sacchetti, Palast der Republik).

Um die Kuriositäten dieser Welt auf zwölf einzudampfen, musste sich Schalansky offensichtlich beschränken. In ihrer Vorbemerkung listet sie über zwei Seiten Dinge auf, die verloren – oder gefunden – wurden, während sie an dem Buch arbeitete. So „[…] verglühte die Raumsonde Cassini in der Atmosphäre des Saturn ; zerschellte der Marslander Schiaparelli in der rostigen Gesteinslandschaft jenes Planeten, den er hätte untersuchen sollen ; verschwand eine Boeing 777 spurlos auf dem Weg von Kuala Lumpur nach Peking“.  Doch es wurden auch Dinge entdeckt: „[I]m Sternbild des Schwans, 1400 Lichtjahre von unserer Sonne entfernt, [wurde] ein Himmelskörper in einer sogenannten habitablen Zone gefunden […].“

Von Inseln, die im Meer versanken, zu einem verlorenen Stummfilm

Im ersten Kapitel lernen wir die Tuanaki-Inseln kennen, die bei einem Erbeben 1842 im Meer versanken, aber noch drei Jahrzehnte lang auf Karten verzeichnet wurden – bis 1875. Anhand von Details aus „dem einzigen Bericht“ über die Inseln, zeichnet Schalansky ein eindrückliches Bild von Tuanaki. „Tags darauf trieben an der Stelle, wo sich die Insel befunden hatte, nichts als tote Bäume auf dem spiegelglatten Meer“, schreibt sie im Gedanken an den Tag nach dem Erdbeben.

Der Tonfall des Buches wandelt sich, passend zum Thema, das gerade behandelt wird, doch am lebendigsten wird die Schilderung immer dann, wenn es um die Natur geht. Im Kapitel „Hafen von Greifswald“ lässt Schalanskys Prosa ein verlorenes Gemälde auferstehen. Der deutsche Künstler Caspar David Friedrich malte 1820 den Hafen seiner – und Schalanskys – Heimstadt, doch das Werk fiel 1931 einem Brand zum Opfer – und hinterließ keinerlei Hinweis, wie es einst aussah.

Schalansky beschriebt, wie sie entlang des Hafens wandert und malt die dortige Flora und Fauna in lebendigen Farben aus, als spazierte sie geradewegs durch das Gemälde. „Gedämpftes Licht fällt auf die schlanken Triebe der Hasel, die jungen Buchen und schmächtigen Birken. Bald verdunkeln hochgewachsene Fichten den nun federnden Boden voller schuppiger Zapfen und vergilbter Nadelstreu, bis es unter Eichen- und Buchenkronen wieder heller wird.“ Das Gemälde mag verloren sein, doch Schalanskys Worte machen es leicht, sich seine expressionistischen, idyllischen Landschaften vor Augen zu rufen.

Ein Hollywood-Star, neu gedacht

Im Kapitel „Der Knabe in Blau“, über Friedrich Wilhelm Murnaus verlorenen Stummfilm, ersteht Greta Garbo als launischer Star vergangener Jahre von Neuem auf. „Was hatte sie nicht alles für dieses Gesicht gemacht? Ihren Haaransatz begradigt, ihre Zähne gerichtet, die Frisur und die Haarfarbe verändert. Kein Wunder, dass die Arschgeigen sich einbildeten, es gehörte ihnen.“

Von Nature Writing bis hin zum Magischen Realismus – das Buch arbeitet ein weites Feld ab und benutzt dabei die Vergangenheit als Scheinwerfer, um die Gegenwart auszuleuchten. Wie Schalansky in ihrem Vorwort schreibt: „Wie alle Bücher ist auch das vorliegende Buch von dem Begehren angetrieben, etwas überleben zu lassen, Vergangenes zu vergegenwärtigen, Vergessenes zu beschwören, Verstummtes zu Wort kommen zu lassen und Versäumtes zu betrauern.“ Auch wenn sie zugibt, dass Literatur nichts tatsächlich zurückbringen kann, glaubt Schalansky fest daran, dass sie die einzige Möglichkeit darstellt, alles zu erleben. Darin liegt die Bedeutung dieses Buches.

 

über die autorin

Judith Schalansky © René Fietzek Judith Schalansky, geboren 1980 in Greifswald, hat Kunstgeschichte und Kommunikationsdesign studiert. Ihre Werke, darunter der international erfolgreiche Bestseller „Atlas der abgelegenen Inseln“ und der Roman „Der Hals der Giraffe“, wurden in mehr als 20 Sprachen übersetzt und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Neben ihrer Tätigkeit als Redakteurin für „Naturkunden“ lebt sie in Berlin und wirkt als Designerin sowie freie Autorin.

 

KOSTENLOSE DIGITALE KOPIE DES ORIGINALTITELS AUSLEIHEN

Verzeichnis einiger Verluste (An Inventory of Losses)

Top