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Interview
„Kunst ist Therapie und Empowerment”

 Giulia Ambrogi, Mitbegründerin und Kuratorin, St+art India Foundation
Giulia Ambrogi, Mitbegründerin und Kuratorin, St+art India Foundation | © Giulia Ambrogi

Giulia Ambrogi will als Kuratorin für zeitgenössische Kunst die Kultur der Kunst im öffentlichen und städtischen Raum fördern. Im Jahre 2014 war sie Gründungsmitglied der St+art India Foundation, Indiens erster Plattform für urbane zeitgenössische Kunst.

Von Faizal Khan

Wie kann Kunst im öffentlichen Raum sinnstiftend in einer von der Covid-19-Pandemie paralysierten Welt wirken?

Kunst kann grundsätzlich die Fantasie beflügeln. Darüber hinaus greift Kunst Elemente aus der Realität auf und überträgt sie in Zukunftsvisionen und Interpretationen der Vergangenheit und der Gegenwart. Alles in allem ist Kunst eine Form der Therapie. Und sie ist auf gewisse Weise auch eine Form der Selbstermächtigung, an etwas anderes zu denken und die Macht des Denkens zu nutzen. Das Besondere an Kunst im öffentlichen Raum in Covid-19-Zeiten war, dass wir auf bisher ungekannte Weise in unseren eigenen vier Wänden festsaßen. Wir wurden immer süchtiger nach sozialen Medien und Online-Kommunikation. Schließlich haben wir unsere Umgebung, uns selbst und andere nicht mehr als physische Einheit wahrgenommen. In dieser Hinsicht ist die Kunst im öffentlichen Raum etwas Wunderbares, denn sie findet unter freiem Himmel und außerhalb von geschlossenen Räumen statt, hat aber trotzdem etwas Körperhaftes. Es ist beinahe so, als würde man der Stadt ihr Leben zurückgeben durch Wandbilder, durch die Möglichkeit, die Wohnung zu verlassen, Menschen zu treffen und Kunst in der eigenen Stadt zu betrachten. Und sich dabei den eigenen öffentlichen Raum durch friedliche und sinnvolle, gemeinschaftsstiftende Aktionen zurückerobern.

Hat es durch die Pandemie, möglicherweise auch zwangsläufig, Veränderungen bei den Abläufen und der Praxis der Streetart in Indien gegeben?

Natürlich. Die Welt stand für alle still, außer für systemrelevante Arbeitskräfte. Auch wir haben während der Pandemie gearbeitet, als die Beschränkungen gelockert wurden. Beispielsweise haben wir auch Wandbilder für die Held*innen der Pandemie geschaffen. Natürlich war die Situation völlig neu. Es fehlten die internationalen Künstler*innen und die Künstler*innen von außerhalb der Städte, wo wir aufgrund der Reisebeschränkungen arbeiteten. Es ist interessant zu sehen, wie uns Einschränkungen auch beflügeln und neue Experimentierfelder eröffnen können. Wirklich verändert haben sich das kollektive Erlebnis, der grundsätzliche Austausch mit der Bevölkerung und die Möglichkeit der Veranstaltung eines Festivals mit mehreren Künstler*innen. Das hat sich enorm verändert. An der Qualität der Arbeit hat sich dagegen nichts geändert. Daher haben wir über soziale Medien Kontakt zur Bevölkerung aufgenommen.

Welche Faktoren haben dazu beigetragen, dass eure Wahl auf die beiden Städte Delhi und Chennai als Veranstaltungsorte für GT #Murals fiel?

Dafür gab es unterschiedliche Gründe. Zum einen beschäftigt uns das Thema Reisen. Deshalb gefiel uns der Gedanke, eine der südlichsten und eine der nördlichsten Städte Indiens für unser Projekt zu wählen. Wir wollten Verbindungen in diesem Land knüpfen, das so groß wie ein Kontinent ist. Außerdem haben wir Kunstviertel in beiden Städten. Wir hielten es für sinnvoll, dieses Projekt in das bestehende Projekt in Kannagi Nagar in Chennai einzubetten, um so einen größeren Teil der Bevölkerung zu erreichen. Wir dachten, ein Projekt in einem größeren Rahmen hätte für alle Seiten Vorteile – für das Publikum, die Öffentlichkeit, die Künstler*innen und das Projekt im Allgemeinen.

Wie habt ihr die beiden Künstlerinnen, Greta and Aashti, für GT #Murals ausgewählt?

Da gab es gewisse Kriterien. Einerseits haben wir nach Künstler*innen gesucht, die aus unserer Sicht eine ausdrucksstarke und ausgereifte gestalterische Handschrift tragen. Man wirft einen Blick in die Portfolios der Künstler*innen und sieht, dass sie immer wieder neue Themen bearbeitet haben und sowohl formal als auch inhaltlich starke Bildkompositionen entwickeln konnten. Das war das erste Kriterium, nach dem wir 30 Teilnehmer*innen ausgewählt haben. Davon ausgehend haben wir überlegt, welche indischen und deutschen Teilnehmer*innen gut miteinander harmonieren könnten. Natürlich dürfen die Zeichenstile nicht völlig gegensätzlich sein, damit das Ergebnis nicht wie eine schräge Gegenüberstellung anmutet. In dieser Hinsicht wären unterschiedliche Strategien denkbar gewesen. Eine Strategie hätte es sein können, dass wir uns gerade für diese schräge Gegenüberstellung entscheiden. Doch ein solches Aufeinandertreffen künstlerischer Visionen erschien uns ein wenig umständlich. Schließlich kamen vier Personen in die engere Wahl. Zwei von ihnen hatten bereits mehrere Wandbilder gestaltet und waren beide Männer. Die anderen beiden waren talentierte aufstrebende Künstlerinnen, die noch nie ein Wandbild gestaltet hatten, und Frauen. Nach einigen Überlegungen gefiel uns diese Verbindung ein wenig besser. Wir wollten den Künstlerinnen die Möglichkeit geben, sich ein Medium zu erschließen, das so gut wie nichts mit ihrer bisherigen Arbeit zu tun hatte. Und hier dachten wir, dass Aashti und Greta ein gutes Team bilden könnten. Bisher scheint es sehr gut zu funktionieren zwischen den beiden. Von der ersten Verständigung über die Ideenfindung und Konzeption eines Entwurfs bis hin zum Entwurf selbst ist die Zusammenarbeit reibungslos verlaufen. Es gab keinerlei Probleme, soweit ich es beurteilen kann, und die Ergebnisse sehen, nach den Skizzen zu urteilen, sehr gut aus. Ich denke, es war die richtige Entscheidung.

Könntest Du kurz erläutern, wie die Arbeit der St+art India Foundation dazu beigetragen hat, dass in Indien mehrere Kunstviertel entstanden sind?

Diese Entwicklung haben wir einem großartigen Netzwerk von Akteur*innen zu verdanken. Als erste Kunstviertel haben wir der Regierung den Lodhi Art District und den Mahim Art District vorgeschlagen. Außerdem gibt es noch Maqta in Hyderabad, Kannagi Nagar und Ukkadam in Tamil Nadu und Panjim. Wir haben Viertel ausgewählt, die aus unserer Sicht interessante Orte innerhalb des Stadtgebiets waren. Wir dachten, dass es diesen Städten an einem demokratischen und zeitgemäßen Angebot fehlte, das für alle offen und zugänglich ist. Obwohl sich diese Orte mitten im Stadtzentrum befanden, waren sie noch nicht erschlossen. Lodhi ist ein ganz wunderbares, für alle offenes und grünes Wohnviertel. Es ist fußgängerfreundlich, obwohl man in Delhi so gut wie nirgends zu Fuß gehen kann. Uns interessierte die Frage, wie wir unsere städtischen Räume nutzen, sie für die Öffentlichkeit erschließen und ihnen eine kulturelle Bedeutung geben können. Nach dem Startschuss für den Lodhi Art District wollten wir nach Möglichkeiten suchen, um dieses Format auch auf andere Städte zu übertragen. Ich denke, jede Stadt besitzt eine ganz eigene Ausdruckskraft und Dynamik. Sie hält für jede*n etwas bereit. Und jede*r misst den Dingen eine andere Bedeutung bei.

Was macht ein Kunstviertel innerhalb der indischen Kulturlandschaft aus?

Um ehrlich zu sein, muss man den Dingen immer einen Namen geben. Wir haben diese Bezeichnung innerhalb der St+art India Foundation gewählt, weil wir einen Namen brauchten. Wie nennt man eine solche Sache? Eine Serie von Wandbildern? Das hätte nicht gepasst. Wir haben uns für die Bezeichnung Kunstviertel entschieden, weil sie im Grunde genau das sind, nämlich Viertel, in denen es viel Kunst gibt. Es war die naheliegendste Bezeichnung für unser Projekt. Außerdem gehört die Gestaltung von Wänden bisher zu unseren größten Stärken. Wir sind bekannt für unsere Wandbilder, obwohl wir auch viele andere Dinge wie Installationen, gemeinschaftsbasierte Projekte, Performances, Tanz- und Musikveranstaltungen machen. Wandbilder sind das wichtigste Aushängeschild unserer Kunstviertel, weil sie sichtbare Spuren hinterlassen. Wir wollten uns gedanklich nicht einschränken, indem wir definieren, was ein Kunstviertel ausmacht. In Kannagi Nagar haben wir versucht, ein lokales Netzwerk aufzubauen. Wir haben Kontakte zur Chennai Photo Biennale (die großartige Workshops in Kannagi Nagar veranstalten) und zum Urban Design Collective (die ebenfalls großartige Arbeit im Kunstviertel leisten) geknüpft. Dann sind wir wieder fortgegangen, doch sie sind noch immer da und haben in den letzten drei Jahren ihre Arbeit in Kannagi Nagar fortgesetzt. Wir möchten daher ungern festlegen, was ein Kunstviertel ist. Wir wollen lieber Anreize schaffen. Damit aus diesen Vierteln ein Ort wird, an dem neue Ideen und neue Vorstellungen geboren werden. An einem solchen Ort ist alles möglich.

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