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Sprechstunde – die Sprachkolumne
Rechtschreibung oder Unrechtschreibung?

Illustration: Ein geöffnetes Buch, darüber eine Sprechblase mit Ausrufezeichen
Mittlerweile ist die Rechtschreibung in den Köpfen fest verankert | © Goethe-Institut e. V./Illustration: Tobias Schrank

Erbitterter hätten die Debatten kaum sein können, die in den 1990er-Jahren um die Reform der deutschen Rechtschreibung tobten. Woher rührte diese Leidenschaft in Pressehäusern und Amtsstuben, in Schulen und am Stammtisch? Unser Kolumnist Henning Lobin begibt sich auf Spurensuche.

Von Henning Lobin

Gibt es ein anderes Land, in dem so vehement über Rechtschreibung gestritten wird? Ich kenne keines. Aber vielleicht entfaltet sich in der Debatte um die deutsche Orthografie die Energie, die woanders bei der Normierung von Wortschatz und Grammatik eingesetzt wird. Denn die Rechtschreibung ist der einzige sprachliche Bereich, in dem es eine staatliche Normierung gibt – in allen offiziell deutschsprachigen Ländern.

Blick zurück

Anfang Juli 2021 jährte sich die Einführung einer reformierten Rechtschreibung des Deutschen zum fünfundzwanzigsten Mal. Seit 1996 ist es erlaubt, „Schifffahrt“ mit drei f zu schreiben, oder durch Leerzeichen getrennt „Rad zu fahren“. Das „dass“ wird mit zwei s statt mit ß geschrieben und „vor Kurzem“ groß. Ziel der Reform war es, die Rechtschreibung durch konsequentere Regeln einfacher zu machen und die Schreibung vieler Wörter besser ins System zu integrieren.
 
Bereits 1901 hatte es eine große Rechtschreibreform gegeben – diese bildete fast das gesamte 20. Jahrhundert die Grundlage dessen, was im Duden beschrieben wurde. Konrad Duden selbst hatte an der Reform mitgewirkt und sein Wörterbuch danach zum wichtigsten Nachschlagewerk in Fragen der Rechtschreibung gemacht. Das funktionierte so gut, dass der Duden ab 1955 zur quasi-amtlichen Instanz erklärt wurde, an der sich Behörden und Schulen zu orientieren hatten.
 
Eigentlich sollte in dieser Zeit bereits eine größere Reform auf den Weg gebracht werden, aber aufgrund der deutschen Teilung war daran für den gesamten deutschsprachigen Raum in einheitlicher Weise nicht zu denken. Erst in den 1990er-Jahren gelang dies, nachdem zuvor einige weitaus radikalere Vorschläge – „Der keiser sass im bot“– zu den Akten gelegt worden waren.

Stürmischer Widerstand

Aber auch die vergleichsweise moderate Reform von 1996 erregte die Gemüter so sehr, dass für einige Jahre ein regelrechter Kulturkampf entbrannte: Große Tageszeitungen weigerten sich, die Reform umzusetzen, was ihnen natürlich freistand. Eltern empörten sich darüber, was ihre Kinder nun in der Schule lernen sollten, Schriftsteller und Schriftstellerinnen beklagten in eigens verfassten Stellungnahmen die Bedrohung der schönen deutschen Sprache durch die neuen Regeln. Schließlich musste sich sogar das Bundesverfassungsgericht mit der Umsetzung in den Schulen befassen, und in Schleswig-Holstein führte ein Volksentscheid dazu, die Reform erst einmal zu stoppen.
 
Die Kritik hatte verschiedene Ursachen. Zum einen stand eine Kommission hinter der Entwicklung der neuen Regeln, die sich fast ausschließlich aus Sprachwissenschaftler*innen zusammensetzte. Presse, Medien, Verlage und weitere Gruppen der Gesellschaft waren nur wenig beteiligt worden und zeigten sich zum Teil sogar von der Reform überrascht. Die notwendige Diskussion eines so „öffentlichen“ Themas wie der Veränderung der Rechtschreibung fand daher erst nach den finalen Beschlüssen auf politischer Ebene statt.
 
Zum zweiten rückte die Reformkommission eine Perspektive auf die Orthografie in den Vordergrund, die nicht alle teilten. Danach soll die Orthografie möglichst das Lautbild der Sprache abbilden, auch wenn zugleich das sogenannte Stammprinzip galt („Rad“ wegen „Räder“, obwohl Ersteres als „rat“ ausgesprochen wird). Dies erleichtert das Schreiben, macht aber das Lesen schwieriger. Außerdem hat die Reform manche Bedeutungsunterschiede unkenntlich gemacht, was ganz besonders kritisiert wurde („falsch liegen“ gegenüber „falschliegen“).

Rückkehr des Rechtschreibfriedens

Nachdem der Konflikt jahrelang weitergeschwelt war, beschlossen die zuständigen staatlichen Stellen in den deutschsprachigen Ländern, dass eine breiter aufgestellte Kommission eine Überarbeitung des Regelwerks vornehmen sollte. Zudem entstand ein vierzigköpfiger Rat für deutsche Rechtschreibung, der weiterhin die Entwicklung der Schreibgewohnheiten verfolgen und moderate Anpassungen vorschlagen soll. 2006 trat das überarbeitete Regelwerk schließlich in Kraft. In vielen Bereichen sind seitdem mehrere Schreibweisen erlaubt.
 
Mittlerweile herrscht weitgehend „Rechtschreibfrieden“. Nur gelegentlich wird an die vergangenen Kämpfe erinnert und auch an manche Ungereimtheiten, die die Reform hervorgebracht hat. Eine ganze Generation von Schülerinnen und Schülern hat aber inzwischen die neue Rechtschreibung vermittelt bekommen – damit ist sie in vielen Köpfen fest verankert. Bei anderen Menschen wirkt der jahrelange Umstellungsprozess allerdings nach und führt zu zahlreichen Fehlern in der Orthografie. Nun hat sich seit der Reform auch das Schreibverhalten stark verändert, Grund ist der Siegeszug des Smartphones. So lässt es sich nur schwer beurteilen, ob Schwäche in der Orthografie ein Ergebnis der Reform ist oder auf veränderten Schreibgewohnheiten basiert. Eines steht jedoch unzweifelhaft fest: Nach den Erfahrungen mit der letzten wird es so bald keine weitere Reform der deutschen Rechtschreibung geben.
 

Sprechstunde – die Sprachkolumne

In unserer Kolumne „Sprechstunde“ widmen wir uns alle zwei Wochen der Sprache – als kulturelles und gesellschaftliches Phänomen. Wie entwickelt sich Sprache, welche Haltung haben Autor*innen zu „ihrer“ Sprache, wie prägt Sprache eine Gesellschaft? – Wechselnde Kolumnist*innen, Menschen mit beruflichem oder anderweitigem Bezug zur Sprache, verfolgen jeweils für sechs aufeinanderfolgende Ausgaben ihr persönliches Thema.

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