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Pandemie mit Nebenwirkungen
Als aus dem „Ich“ ein „Wir“ wurde

Die Menschen öffneten nicht nur ihre Geldbörsen und ihre Küchen, um andere mit Essen zu versorgen, sondern allem voran ihre Herzen.
Die Menschen öffneten nicht nur ihre Geldbörsen und ihre Küchen, um andere mit Essen zu versorgen, sondern allem voran ihre Herzen, indem sie sich den Hilfsbedürftigen annahmen. | Foto (Ausschnitt): © Adobe Stock

Was tut man, wenn man nicht rausgehen kann? Man kümmert sich um sein Inneres. Und so war die Pandemie eine Zeit des Neustarts, die sowohl das eigene Ich als auch die Gesellschaft verändert hat. Namrata Kohli berichtet über die neue Hilfsbereitschaft und Fürsorge in Indien.

Von Namrata Kohli

Es war eine schreckliche Zeit, die aber dennoch ihr Gutes hatte: Die Menschen sind wieder näher zusammengerückt und haben ein neues Gefühl des Miteinanders entstehen lassen.

Die Coronapandemie hat uns eingeschlossen. Was tut man, wenn man nicht rausgehen kann? Man kümmert sich um sein Inneres. Und so war die Pandemie eine Zeit des Neustarts, des „Alles zurück auf Null“-Stellens und der Umgestaltung, die sowohl das eigene Ich als auch die Gesellschaft verändert hat. Denn manchmal bringt eine Krise das Gute im Menschen zum Vorschein. Inmitten des Kampfes gegen die tödliche Pandemie waren die Jahre 2020 und 2021 in Indien geprägt von sozialer Fürsorge und Menschenliebe. Viele haben sich gegen alle Widrigkeiten und über ihre Pflichten hinaus füreinander engagiert.

Die Menschen öffneten nicht nur ihre Geldbörsen und ihre Küchen, um andere mit Essen zu versorgen, sondern allem voran ihre Herzen, indem sie sich allen Hilfsbedürftigen annahmen. Viele haben ihren Leistungsträgern weiterhin ihr Gehalt ausgezahlt, obwohl sie selbst von Lohnkürzungen oder Jobverlust betroffen waren.

Als die Krankenhäuser in der Stadt Nagpur in Maharashtra aus allen Nähten zu platzen drohten, hat ein 85-Jähriger sein Bett einem 40-Jährigen angeboten und ist selbst drei Tage später gestorben. In Gujara sind zwei Ärzte nur wenige Stunden, nachdem ihre Mütter eingeäschert worden waren, wieder an ihrem Arbeitsplatz erschienen, um „andere Leben zu retten“. Kaste und Glaube spielten auf einmal keine Rolle mehr, und Menschen aller möglichen Glaubensrichtungen kamen zusammen, um den Bestattungsriten anderer religiöser Gruppierungen beizuwohnen.

Gemeinsam sind wir stark

Wenn aus dem „Ich“ plötzlich ein „Wir“ wird, können sogar Krankheiten ein Gefühl des Wohlbefindens auslösen. In widrigen Zeiten bringen das Zusammenrücken und das Gefühl gemeinsam etwas durchzustehen psychologischen Trost. Seine Trauer zu teilen, kann sogar kollektive Heilung herbeiführen.

Als die Mittel der Regierung nicht mehr ausreichten und das Gesundheitssystem unter der Last erdrückt wurde, haben in Indien kurzerhand die sozialen Verbände, Unternehmen und Communitys die Arme hochgekrempelt, um die Krise in den Griff zu bekommen. Die Menschen halfen sich gegenseitig, ob finanziell oder auf anderem Wege. Sie organsierten Verpflegung, sammelten Spenden, Kontakte und Ressourcen, um Medikamente zu besorgen und um Zugang zu Krankenhäusern und zur Notfallinfrastruktur zu erhalten.
Sauerstoffversorgung in „Langars“: das Vorzeigebeispiel der selbstorganisierten Nachbarschaftshilfe in Indien während der zweiten COVID-Welle. Sauerstoffversorgung in „Langars“: Die ungewöhnliche Geschichte der ersten „menschlichen Versorgungskette“ war das Vorzeigebeispiel der selbstorganisierten Nachbarschaftshilfe in Indien während der zweiten COVID-Welle. | Foto (Ausschnitt): © Hemkunt Foundation
Als „Langars“ bezeichnet man normalerweise die freie Küche der Gurudwaras (Gebets- und Schulstätten) der Sikhs. In der Pandemie wurde daraus eine Sauerstoffversorgung: Die ungewöhnliche Geschichte der ersten „menschlichen Versorgungskette“ war das Vorzeigebeispiel der selbstorganisierten Nachbarschaftshilfe in Indien während der zweiten COVID-Welle. Die Fahrzeuge waren rund um die Uhr im Einsatz. Sie stellten sicher, dass die Sauerstoffzylinder immer rechtzeitig aufgefüllt und verteilt wurden.

In Gurudwaras in der Hauptstadtregion um Neu-Delhi wurden die Vorräte sogar aus Baddi in Himachal Pradesh, Haridwar in Uttarakhand, Jaipur in Rajasthan sowie aus Ludhiana und Rupnagar im Punjab herbeigeschafft. Der weitläufige Ashram von Radha Soami Satsang Beas im Vorort von South Delhi Chatarpur wurde in eine Quarantänestation mit 10.200 Betten umfunktioniert. Die Radha Soami Küche, in der normalerweise Menschen, Tempel, die Gurdwaras und andere religiöse Orte in Indien versorgt werden, wurde auf einmal zu einem der Dreh- und Angelpunkte im ersten Kampf, den Indien gegen das Coronavirus ausgefochten hat. Auf diese Weise wurden auch kurzerhand viele Schulen, Stadien, Gemeindezentren, Hotels und institutionelle Bereiche als Quarantänestationen genutzt.

Wie indische Unternehmen im Kampf gegen Corona mitanpackten

Die Unternehmen in Indien haben alles getan, um mit ihrer organisatorischen Infrastruktur das Wohl der Angestellt*innen, Partner*innen und Communitys sicherzustellen. Sie unterstützten die Regierung und staatliche Apparate dabei, Sauerstoff zu besorgen, das Impfen voranzutreiben und medizinische Geräte wie Sauerstoffkonzentratoren oder Ventilatoren zu importieren. HCL und andere Firmen haben 6.000 Sauerstoffzylinder und 21 sofort einsatzbereite Sauerstoffgeräte angeschafft und konnten so den vorherrschenden Sauerstoffmangel ein wenig abfangen.

Im Angesicht der vielen Todesfälle bemühte sich die Firmenwelt in Indien sehr um ihre Belegschaft. So sicherte das Unternehmen Reliance Mitarbeiter*innen, die eine*n Angehörige*n verloren hatten, ein volles Gehalt für die nächsten fünf Jahre zu und übernahm auch die finanziellen Kosten für die Ausbildung der Kinder. Viele Firmen der Tata-Gruppe wie etwa Tata Steel und Tata Motors kündigten an, den Familien verstorbener Angestellter das Gehalt der Person bis zu deren Renteneintrittsalter von 60 Jahren weiterzuzahlen. Andere wie Borosil oder Muthoot Finance boten ein volles Gehalt für zwei Jahre, Softwarefirmen wie TCS und HCL Technologies übernahmen Versicherungen. Viele andere etwa ICICI Lombard beschlossen, die Ehepartner der Verstorbenen bei sich einzustellen.

Geschichten wie diese zeigen, wie der soziale Bereich in Indien die Lücken füllte, die aus logistischen und betrieblichen Gründen entstanden waren. So sprang man etwa ein, um Lebensmittel, Geld, Impfungen und medizinische Ausstattung genau dorthin zu bringen, wo sie gebraucht wurden, vor allem in arme, marginalisierte und ländliche Gegenden.

Eine neue Sicht auf die Welt

Insgesamt lässt sich beobachten, dass die Gesellschaft menschlicher, sensibler und vernünftiger geworden ist. Kategorien wie Macht, Status und Geld treten zunehmend in den Hintergrund. Die Leute adoptieren Haustiere und sind einfach offener im Umgang miteinander geworden. Man gibt lieber, als dass man nimmt - ein Trend, der vor allem bei Jüngeren zu beobachten ist.

Die Menschen sollten jedoch nicht nur aufgrund einer besonderen Notsituation oder aus einem religiösen Wohltätigkeitsbewusstsein heraus agieren, sondern sie müssen das Teilen und das Kümmern als selbstverständlichen Teil ihres Lebens betrachten. Ein kluger Kopf, der sich viel für die gesellschaftliche Entwicklung in Indien engagiert, hat einmal gesagt: „Wenn Armut die einzige größte Katastrophe ist, warum sollten wir dann erst auf eine Flut oder Hungersnot warten, um darauf zu reagieren und zu spenden? Es muss ja nicht immer nur Geld sein, man kann ebenso gut seine Zeit oder seine Fähigkeiten zum Wohl der Gesellschaft einbringen.“
Man gibt lieber, als dass man nimmt Man gibt lieber, als dass man nimmt - ein Trend, der vor allem bei Jüngeren zu beobachten ist. | Foto (Ausschnitt): © Adobe Stock

Persönliches Wachstum dank Pandemie

Auch auf individueller Ebene verändern sich die Menschen: Noch nie haben sich so viele Leute freiwillig dem Lernen neuer Dinge zugewandt, um daraus in Zeiten wirtschaftlicher Unsicherheit Hoffnung, persönliches Wachstum und Resilienz zu schöpfen. Durch die Pandemie haben die Menschen gelernt, proaktiv statt reaktiv mit der eigenen Gesundheit umzugehen. Man wird aktiv, kümmert sich um frühzeitige Diagnosen, regelmäßige Nachuntersuchungen und stockt die eigenen medizinischen Vorräte auf. Die Menschen begeben sich sozusagen in einen „Back-To-Basics“-Zustand und versuchen, nachhaltiger zu leben. Fahrräder erleben einen wahren Boom, und Elektro-Autos stehen in den Startlöchern, um eine neue, umweltgerechte Verkehrsplanung einzuläuten. Auch Hochzeiten werden seit COVID-19 anders gestaltet: Statt große, aufwändige Feiern setzt man vermehrt auf einfache und nachhaltigere Alternativen. Viele Menschen in Indien haben darüber hinaus während der Pandemie Traditionen, kulturelles Erbe und alte Weisheiten wiederentdeckt und wertgeschätzt.

Jemand hat einmal gesagt: „Man muss erst einmal bis zum Hals im Dreck gesteckt haben, bevor man sein eigenes Ich entfalten kann.“ Wir können also hoffen, dass sich nach der Pandemie nicht nur jede*r einzelne von uns, sondern auch die Gesellschaft als Ganzes in einem besseren Zustand befinden wird.


Dieser Artikel erschien zuerst in der Zeitschrift Politik und Kultur Ausgabe Nr. 02/2022.

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